Freitag, 4. März 2016

This is not a Bluff. Or is it?

Heute sind wir den halben Tag durch die Weiten Schottlands (Te Anau bis Queenstown) gefahren und haben die mit rauem Velours bezogenen Berge bestaunt, bevor wir uns über Serpentinen auf eine isländische Anhöhe zwischen Arrowtown und Wanaka hochgeschraubt haben. Von Dienstagnacht bis Freitagfrüh waren wir in Norwegen/in den Fjordlands, haben Berge bezwungen, die unsere Gelenkscharniere beim Abstieg zurückbezwungen haben, und die gänzlich unbeeindruckten Robben im Milford Sound beobachtet. Zuvor tranken wir zum Frühstück Ginger-&-Lemon-Tea an der regnerischen Südküste Englands (Catlins) und badeten zwischendurch nachmittags in kristallklaren Seen Südfrankreichs (Lake Pukaki, Lake Te Anau) und wachten am italienischen Meer auf(Brighton/Riverton).






Drama in Riverton


 
 Lake Te Anau


Wunderschön und abwechslungsreich und hinter jeder Kurve was fürs Auge. Und wir mittendrin. Am Meer, an Seen, an Neuseelands ältester Hängebrücke, am Fuß eines wuchtigen Bergmassivs parken wir unsere olle Kiwi. Manchmal auch einfach am Waldrand nahe der Straße. Wir tunken die Füße ins Meer, schmeißen uns in Ermangelung von Duschen in den nächsten See/den glasklaren Fluss und ignorieren 
manchmal auch die Tatsache, dass die letzte Dusche auf einem der bezahlten Plätze mit Strom mehr als 48/72/96 Stunden zurückliegt.
Die frisch geschorenen Schafe um uns herum scheint es nicht zu stören, und all die 
Possum-Roadkills entlang der Southern Scenic Route machen sowieso keinen Mucks mehr.


Manchmal gibt es auch Ortschaft, rangierend von praktisch-nicht-existent über mini und klein bis hin zu mittel, je nachdem, ob man als Maßstab Singapur oder Trier-Süd anlegt. Unter Touristen/Reisenden/Weltenbummlern/Travellern¹ rangieren diese Ortschaften in verschiedenen Kategorien:
a) Ein “Must-See auf meiner Bucket List!”
b) reuelos durchfahren oder vorher abbiegen, um schneller bei a) anzukommen
c) guter Punkt, um günstig Lebensmittel/Benzin zu erwerben und dann rasch weiter zu a).

Invercargill fällt gleich in zwei Kategorien: b) und c). Wer Zeit hatte, um die Catlins zu bereisen, wird, bei der Weiterfahrt in Richtung Fjordlands an der 
Westküste, irgendwann unweigerlich vor der Frage stehen: ‘Müssen wir unbedingt in Invercargill Halt machen?’

Dies ist ein Plädoyer fürs Anhalten. Für das Innehalten in Invercargill.


  Dazu muss man wissen, dass ich von jeher nicht mit preußischer Zackigkeit gesegnet bin, wenn es ums Reisen geht. Ich stehe nicht morgens als Erste über der Landkarte, während nebenbei die Eier überm Gaskocher schmurgeln. Ich weiß in der Regel nicht, wer das, was vor mir liegt, erfunden oder entdeckt oder siegreich errungen 
respektive in einer blutigen Niederlage drangegeben hat. Und auch dann kann es sein, dass ich an den herausragendsten Ruinen mit den einzigen mundgeblasenen
 Buntglasfenstern der südlichen Hemisphäre vorbeilaufe. Wenn man Touristen/Reisende/Traveller/Weltenbummler in Kategorien einteilen würde, sähe das meiner Ansicht nach so aus:
a) Reiseführer
Sie wissen, wo es langgeht. Sie haben die richtige Literatur dabei/gelesen, stehen früh auf und haben einen mehr oder minder ausgefeilten Plan in der Tasche, was der Tag bringen wird. Sie wissen, wie hoch der Berg vor ihnen ist, wer ihn entdeckt hat, wann die Kirche am Hang von wem warum gebaut wurde etc. Sie sind bestens ausgerüstet und haben immer genug Trinkwasser und Speicherkarten dabei.
b) Surfbretter
Sie kennen die coolen Spots. In angerautem Indiechic chillen sie an den lässigsten Beaches mit den süßesten Babes, wissen scheinbar immer, wo die Wellen gerade perfekt sind und wo man abends beim Sonnenuntergang ein schönes kaltes Bier mit dem Feuerzeug aufmacht, während einer der Kumpels auf seiner Gitarre klampft. Wahlweise können sie skaten/surfen/snowboarden oder alles.
c) Koffer
Man stellt sie ab und dann stehen sie erstmal da. (Sie sind ja neu hier und haben keinen Plan.) Deshalb stolpern die anderen beiden auch oft erstmal darüber - an gut 
besuchten Orten sind sie also eher unpraktisch. Koffer stehen gern, gucken und 
lassen Menschen und Eindrücke an sich vorüberziehen. 
  
Meine Mutter sagt heute noch, ich sei der beste Schläfer im Kindergarten gewesen. (Es geht hier um die Ruhepause nach dem Mittagessen, nicht um Spionageaktivitäten.) Es sollte nicht allzu schwer sein, sich auszurechnen, zu welcher Gruppe ich zähle.



Invercargill ist eine Stadt, in der der Bürgermeister die lokalen Kernkompetenzen wie folgt beschreibt: “Invercargill is not a brash powerful Supercity. It is a modest, unassuming, friendly, urban community. (...) Many visitors also invest in 
Invercargill real estate because it is so affordable.”² Na schön.

Das langgezogene, schnurgerade Straßennetz mit Ladengeschäft an Autowerkstatt an Kebabladen an Sanitärfacheinrichtung an Autowerkstatt an Internetcafé an Imbiss an Autozubehörlieferant sorgt dafür, dass hier kaum jemand läuft. Die Ampeldichte und -schaltung tragen wiederum dazu bei, dass man ziemlich oft steht. Dabei hat man aber ausreichend Zeit, um die bunt gemischte Architektur zu betrachten oder sich Gedanken zu  machen, was man im ersten günstigen Supermarkt seit Hunderten von Kilometern zum Abendessen einkaufen wird.






Bester Döner  von Southland?

Die örtliche Touristeninformation bietet nicht nur die üblichen Broschüren zu Helikopterflügen, Fjordfahrten und Raftingabenteuern, sondern auch ein fabelhaftes Museum mit vielerlei Gemälden lokaler Künstler, Historie, original Maorikanus und sogar Tierleben. Die Echse Henry, gegen Ende des 19. Jahrhunderts geboren, lebt mit einigen Artgenossen hier. Henry habe im Alter von ca. 106 Jahren zum ersten Mal geruht, sich einer Paarung hinzugeben, erzählt mir Schaffarmer Frank aus Gore, der außerdem sofort erkannt hat, dass ich im richtigen Leben wohl einen “clean job” ausüben muss - wegen meines ordentlichen Haarschnitts. Da er noch wilder oberhalb der Stirn aussieht als ich gerade, möchte ich ihm glauben, dass er mich nicht vereimert hat.








Die Stadt wartet außerdem mit einem Radweg zum ca. 30 km entfernt gelegenen Bluff auf. Bluff ist nicht nur für sein Austernfestival (im Juni), sondern auch für seine Wegweiser am südlichsten Punkt der Südinsel bekannt, und bietet darüber hinaus auch einen wunderbaren Küstenweg entlang des azurblauen Meeres und durch wundervoll verwunschenen, vermoosten und -flechteten Wald, wie man ihn oft auf der Südinsel findet. Bluff wird nicht das “Hollywood des Südens” genannt, könnte es aber: wegen seiner fabelhaften rostigen Buchstabeninstallation am Ortseingang, mit Liebe zum Detail - die Buchstaben stehen auf weißen Muscheln.
In und um Invercargill gibt es durchaus Einiges zu sehen, mit einer Ausnahme: Touristen/Reisende/Traveller/Weltenbummler sind rar. Ich sehe kaum Menschen mit Fleecewesten, An-und-Abzip-Ultraleichthosen und digitalen Spiegelreflexkameras vorm Gesicht. Vielleicht gibt es zu wenige Action-Hotspots oder Highlightfotomotive für die Bucket List.
Dafür haben sie eine Kirche mit einem Plakat vor der Tür: “Jesus… Yeah! … Nah … It’s the choice of a lifetime.” Keine Ahnung, wer die Kirche gebaut hat. Aber ich liebe das Plakat.
In Invercargill ist genug Stille für meinen inneren Koffer. Mehr Alltag. Mehr Innehalten. Invercargill … Nah … Yeah!


Eure Anja


¹ Für mich liegt die Grenze zwischen den Ausdrücken lediglich bei Eigen- und Fremdwahrnehmung. Man selbst ist natürlich ein Reisender, die Anderen sind bloß Touristen. Komischerweise stehen immer die anderen im Weg, wenn man selbst gerade ein irrsinnig originelles Foto machen will.
² vgl. Invercargill City Guide, 2016, S.3

2 Kommentare:

  1. Ich bin auch ein Koffer.
    Lieben Dank für Bericht und Fotos! :) Freu mich schon auf Weiteres. Ich denk an euch! :*

    AntwortenLöschen
  2. Schreib bitte ein Buch! Toller Text :)

    AntwortenLöschen