Dienstag, 25. Oktober 2016

Sommerfrische in Sibirien

Eine Gruppe Senioren tanzt in bunt gestreifter, beigefarbener oder blaugrauer Alltagskleidung zu russischer Volksmusik um einen Ghettoblaster. Ein Kleinkind reitet auf einem Rentier, ein zweites versucht sein Glück auf einem Kamel, dessen Höcker bedenklich zur Seite geneigt sind. Auf den Treppenstufen vor uns sitzt ein junger Mann mit einem riesigen, weißen Plüschbären und einem wuchtigen Strauß Blumen, während hinter uns ein Dreijähriger im rosa T-Shirt erst die Tanzbewegungen der alten Herrschaften imitiert und gleich darauf freudestrahlend Tauben jagt. An einem mobilen Kiosk verkauft eine Frau Cola und Limonade und Eis. Über allem steht Zar Alexander III. 







So habe ich mir Irkutsk nicht vorgestellt.
Sondern? Grau wie der Mantel des blickscheuen Mannes vom KGB? In sich gekehrt wie ein schmollender Teenager, der den Tanten schmallippig Guten Tag sagt, damit die Eltern Ruhe geben? Ich weiß es nicht und lasse meine Vorurteile weiterziehen. Schließlich sind wir überhaupt hier, weil ich finde, dass Politik nicht zwingend dem beherrschten Volk aus der Seele spricht. Sonst könnte man ja kaum noch wohin reisen.
Wir beobachten flanierende Familien, selbstvergessene Liebespaare, Selfies knipsende Teenager und einen Junggesellinnenabschied - drei Mädchen mit Krönchen und Schleier (wie soll man denn da bitte die Braut erkennen?) -, die sich nach einer Weile unter die Rentner mischen und mit ihnen im Kreis tanzen. Die Sonne beißt sich im Asphalt fest, es müssen knapp dreißig Grad sein. Eigentlich wollten wir nur spazieren gehen. Das Treiben auf dem Platz hält uns zwei Stunden lang fest. 


Tags zuvor sah das noch ganz anders aus. Nach zwei Nächten in der Transsib, davon etwa zehn Stunden an der Grenze harrend, nach Kartenspielen, Lesen, Geschichtenerzählen und aus-dem-Fenster-Gucken, nach Bananen, Schokokeksen und transportfreundlichen Trockensuppen, gab sich Irkutsk still und desinteressiert. Um halb acht Uhr morgens verabschiedeten uns die provodnitsas unseres Waggons mit herber Freundlichkeit in den strömenden Regen. 




Unsicher, in welcher Richtung unsere erste Unterkunft lag, froh, von der Dame am Fahrkartenschalter mit Hängen, Würgen, viel Lächeln und Gesten zwei Tickets für weniger als einen Euro erstanden zu haben, bestiegen wir in frühmorgendlicher Risikofreude einfach die nächstbeste Bahn. Und stellten fest, dass die Tickets an Bord verkauft werden, von einer Frau, die mit einem portablen Drucker von allen Zusteigenden das Fahrgeld kassiert. Ich zeigte ihr unsere Tickets, sie sprach viele russische Sätze, deren Essenz ich nicht wiedergeben könnte, ohne zu raten, und ließ uns mitfahren, obwohl wir mit Sicherheit die  falschen Fahrkarten hatten. Sie deutete auf die Haltestelle, an der wir aussteigen sollten, und half uns damit über die erste Hürde des Ankommens.
Wir deckten uns im Supermarkt mit den ersten Frühstücksnotwendigkeiten ein. Der Lebensmittelimport aus Deutschland scheint nach wie vor gut zu funktionieren.
Und als der Himmel sich ausgeregnet hatte, unternahmen wir unseren ersten Ausflug ins 130 Kvartal, einer Rekonstruktion der traditionellen, sibirischen  Holzhäuser, mit Restaurants, Geschäften und Softeisbuden, zwischen denen hauptsächlich russische Touristen flanieren und posieren. Ich nenne diesen mir nicht nachvollziehbaren Teil irkutsk'scher Stadtplanung Plastiksibirien. Die echten Holzhäuser, die man in der ganzen Stadt zwischen Plattenbauten und Prä-Sowjetarchitektur tapfer, aber kaum aufrecht stehen sieht, verfallen in der Zwischenzeit. 




 Sie werden über kurz oder lang zeitgemäßen Investionsprojekten weichen. Shoppingsibirien wird übrig bleiben - drumherum die Straßenschilder mit den Namen aller Heroen einer fast verblichenen und wahlweise belächelten oder verdammten Ideologie, die ich aus meiner Kindheit, aus Schulbüchern und Geschichten kenne. Friedrichs, Engels, Lenin, Liebknecht, und die Straße mit den schicksten Läden ist die ulitsa Karla Marxa. Ob er sich das so vorgestellt hat? 





Nun sind wir also mittendrin in diesem Land mit der schweren Seele, der argwöhnisch beobachteten Politik und dem hochprozentigen Alkohol. In einer Region, die sich über ihre Exilanten definiert, über ihre Bodenschätze, ihre Distanz zu Moskau und ihren bitterkalten Winter, von dem man in Europa glaubt, er dauere mindestens ein ganzes Jahr. Falls die Menschen hier neugierig sind, so sind sie doch mindestens gleichermaßen zurückhaltend. Sie begegnen uns mit ernsten Mienen, aber nicht unfreundlich. Aufmerksam bleiben sie stehen, wenn eine von uns ein Foto macht, um nicht durchs Bild zu laufen. Sie sind ordentlicher gekleidet als wir, die wir alle paar Tage ein knittriges Shirt aus dem Rucksack ziehen, und penibler frisiert als ich, die ich mich nach acht Jahren der Kurzhaarvariationen erst langsam wieder ans Kämmen gewöhne. 


Während der drei Tage in der Stadt, die knapp 600.000 Einwohner zählt, folgen wir unserem bevorzugten Muster: Reden, laufen, Alltag gucken. Und so diskutieren wir nach dem Abendessen mit unserer Zimmervermieterin übers Schreiben, über asiatische Popkulturfantasien und schließlich über Moskau und seine Machtinhaber. Auch wenn dies manchmal mehr Aushalten als Preisgeben und Gegenhalten bedeutet, ist es doch interessant zuzuhören und die Implikationen des Ausdrucks Propaganda im Kopf beidseitig zu beleuchten. 

Manchmal lassen wir uns doch vom Reiseführer an die Hand nehmen: Im (Museums-)Haus der Familie Trubetskoy folgen wir den Dekabristen und ihren Frauen aus wohlsituiertem Leben in die Einsamkeit Sibiriens. Im Sowjet-Popkitsch-Restaurant 'Rassolnik', mit Häkeldeckchen, Kassetten und alten Brillengestellen an den Wänden und Soljanka auf der Speisekarte, probieren wir zum ersten Mal geräucherten Omul, einen Fisch, den es nur im Baikalsee gibt. Wir kaufen Softeis mit Karamellsoße und beim Spaziergang an der Angara freuen wir uns (und staunen ein bisschen), zwei junge Frauen Hand in Hand gehen zu sehen. Das hat der Reiseführer verschwiegen. Ich traue ihm nur begrenzt.

Schließlich fahren wir mit dem Taxi aus der Stadt heraus und in den Birkenwald hinein zu unserer zweiten Unterkunft, einer ausgebauten Datscha mit reifen Himbeeren und raupendurchfrästem Blumenkohl im Gemüsegarten, der den Gedanken an einen möglichen Mangel in den Geschäften, so wie es ihn früher gab, ungerührt an sich abprallen lässt. Die Banja (= Sauna) steht nebenan und  nur wenige Schritte den Feldweg hinunter ist eine Badestelle im Fluss.  






Hier wollen wir eine Woche bleiben. Lesen, schreiben, spazieren, vielleicht Pilze sammeln, uns von Aufgüssen einheizen lassen und die Eindrücke verarbeiten, die sich in unseren Hirnen und Herzen stapeln und uns manchmal lange schlafen lassen. Die Hausherrin, Lena, umarmt uns, kaum dass wir ausgestiegen sind.
Als wir kurz darauf unsere Zehen probehalber in den Fluss tunken, kriecht ein Gripsholm-Gefühl meine Waden hoch. Wir kriegen frisch aufgebrühten Tee und schwarze Johannisbeeren, dazu Kekse, die wir zuhause Lebkuchen nennen würden.

Am nächsten Nachmittag weicht das andächtige Grillenkonzert im Garten einer Party. Der Platz um den Tisch voller Essen ist auf einmal so dicht bevölkert wie ein Dostojewski-Roman. Frauen und Männer, die Igor, Natascha, Sergej, Michail und Evgenija heißen, trinken Kwas (= Brottrunk) und schenken uns Wein von der Krim und selbstgebrannten Schnaps ein, der wie Karamell aussieht und nach Schokolade schmeckt. Es gibt Tomatenscheiben mit einer dicken Paste aus geriebenem Käse und Mayonnaise - neben Sauerrahm einer der essentiellen Träger russischer Esskultur -, Brote mit Räucherfisch, Kohl und Zwiebeln, Schaschlik und gegrilltes Hühnchen, frische und gesalzene Gurken. 


Nicht von der Verpackung täuschen lassen: Selbst gebrannt.



Dazu hören wir Geschichten und Witze, die wir nicht verstehen können, aber wir lachen trotzdem, denn Lachen ist auch ohne Vokabelkenntnis ansteckend. Wir versuchen, das Essen mit einem Zeltdach gegen den Regen abzuschirmen, und applaudieren den Liedern, die angestimmt werden, als es schon dunkel ist und sich alle ein wenig dichter ans Feuer stellen. Ich weiß gar nichts aus der Heimat beizutragen, schwanke unentschlossen zwischen Heino und Udo Jürgens, und frage mich, ob das daran liegt, dass bei uns eher Bob Dylan und John Lennon geklampft werden, wenn das Lagerfeuer die Schienbeine wärmt, die Stimmen leiser und die Gedanken lauter werden. Weil traditionelles Liedgut eher von Leuten gepflegt wird, deren Motivation darin besteht, möglichst hohe Mauern gegen alles Fremde zu errichten und niemand sich diesen Anschein geben will? Lena, die mit einem Deutschen verheiratet war, springt ein und singt "Von den blauen Bergen kommen wir". 

Auch wenn wir uns nicht mit allen unterhalten können, so gibt es zumindest etwas, das klar ist. Wodka trinkt man nicht nach dem, sondern zum Essen, und einer reicht niemals aus. Ein ordentlicher Trinkspruch ist essentiell, der dritte Wodka in unserer Datscha gilt immer der Liebe und niemals wird das Heben des Glases von 'Nastrovje' begleitet. 
Beim Abschied auf der Haustreppe sagt Igor auf deutsch: "Bitte schließen Sie das Kippfenster", einfach so, umarmt mich und lacht.
Alles in allem scheint es, dass wir wieder einmal das Glück haben, eine Gastfreundschaft erleben zu dürfen, wie sie einem ein seliges Lächeln vor dem Einschlafen beschert. 




Drei Tage später liegt Iris mit einer Erkältung flach und ich stehe im Wald. Um mich herum drei einheimische Frauen. Jede von uns hat ein Messer in der Hand.
Und einen Eimer. Zusammen mit Genija und ihren Freundinnen sammele ich Pilze. Tags zuvor hatte sie angerufen und mich einfach eingeladen. 
Da schon eifrige Sammler vor uns aufgestanden zu sein scheinen, ist die Ausbeute mager. Und so geben wir auf und sitzen schon kurze Zeit später in der elterlichen Datscha einer Freundin. Es gibt Buletten, Salate, Garnelen und Rotwein von Mamas Geburtstag am Abend zuvor. Mama macht mir einen Teller zurecht und da ich sowieso nicht zum Ausdruck bringen kann, dass Fleisch nicht mein Gemüse ist, nehme ich auch die zweite Bulette mit einem schüchternen "Spassiba" entgegen.
Gesprochen wird Russisch und vielleicht mal ein einzelnes englisches Wort, wenn eine sich traut. Sie führen mich durch den Garten, vorbei am Reichtum der in der Region allgegenwärtigen Gemüsebeete, an Mamas Gartenzwergsammlung und an den Hühnern, bewacht von Hahn Pjotr. Xenia gackert zur Erläuterung. 


Als schließlich Genija die Idee hat, mit Hilfe einer Übersetzungs-App 'Russisch-Englisch' eine Schnittmenge zwischen unseren Sprachen herzustellen, verschieben sich die eben noch bedrückend engen Grenzen meiner verbalen Welt schlagartig in nicht mehr greifbare Ferne. Wir reichen einander die Smartphones kreuz und quer über den Tisch, trinken Wein, runzeln die Stirn, wenn die App absurden Kauderwelsch aus ihrer Wortbausteinkiste holt, machen Witze über Sanktionen und fragen uns gegenseitig, wie es so ist, wo wir leben, und was die Menschen hier über uns dort so denken. Sie wollen wissen, was ich arbeite, wie lange wir schon reisen, welche russischen Autoren ich gelesen habe. Muttersprachliche Diskussionen, Kichern, lautstark untermalte Gesten und liebevolle Handgreiflichkeiten werden unterbrochen von konzentriertem Tippen. Es wird stiller, als wir über die Liebe reden, die hier, wenn sie gleichgeschlechtlich ist, versteckt werden muss, weil 'homosexuelle Propaganda' illegal ist. Vermutlich wissen weder Himmel noch Kreml, was Propaganda in diesem Fall bedeuten soll. Fast all die Frauen, mit denen ich hier sitze, lieben Frauen und schweigen dazu in der Öffentlichkeit. Ihre Eltern wissen es vermutlich, aber geredet wird nicht darüber. Ihren Kollegen gegenüber halten sie ihr Leben geheim, zumindest ihre Liebe, aber was ist das Leben schon ohne die Liebe?, "man weiß ja nie, wie die Leute reagieren, vielleicht mit Gewalt." Und: "In der Öffentlichkeit Händchen halten ist okay. Küssen geht auf keinen Fall."
Sie organisieren ihr Leben in einer forcierten Unsichtbarkeit. Sie wollen Kinder bekommen und eine kleine, heimliche Familie sein, von der draußen niemand wissen darf, die Verwandten nicht und auch nicht die Nachbarn. Alles, was sie wollen, ist das, was Andere auch haben, und wenn sie es nur heimlich bekommen, dann nehmen sie es sich eben heimlich.
Doch innerhalb dieser Mauern feiern sie, streiten und blödeln, denn wie überall, wo das Abweichen von der Norm geahndet wird, geht das Leben weiter, verborgener, vielleicht bewusster und fröhlicher, manchmal lauter, manchmal trauriger, aber immer mit noch einem Toast.
Am Ende sagen sie: "Du brauchst dir keine Gedanken zu machen, wenn du wieder nach Russland kommst, du hast jetzt Freunde hier." Mama gibt mir zum Abschied einen Kuss auf die Wange. 




Am Abend steige ich die Treppe unseres Hauses hinauf, betrunken und beschenkt mit Gurken, Pilzen, Kartoffeln und verschwommenen Gruppenfotos vom überraschendsten Nachmittag, an den ich mich erinnern kann. Lena wartet mit dem Essen. Für Iris macht sie Tee aus frischem Thymian, gegen den Husten, und mich verschont sie mit einem weiteren Glas Wodka.
Die Tage fliegen in unserem sibirischen Gartenversteck. Lena gibt uns Tipps für unsere Weiterreise, erzählt Witze über Breschnev, versucht sich an Iris mit einer Schröpfkur, macht Pfannkuchen zum Frühstück und ermahnt uns, das Fenster nicht zu lange offen zu lassen. Wir tauschen Buch-, Film und Rezeptempfehlungen, putzen zusammen Pilze und massieren Basilikum mit Salz, reden dabei über das Leben bis hierher, ich hacke Holz und heize die Banja, wir trinken auf die Gesundheit, auf den Frieden, auf die Liebe, auf das Miteinander. Sie sagt, Russland sei das Land der Improvisation, und wir trinken auf die Erkenntnis.
Wir verlängern unsere sorglose Gemütlichkeit um einen Tag. Und einen weiteren. Und noch einen.


Doch wie es immer so kommt, klopft leise die Sehnsucht an die Holztüren. Hinter den Wäldern wartet Gevatter Baikal auf mich, der größte Süßwassersee der Welt, mit Hunderten von endemischen Spezies und einer meterdicken Eisschicht im Winter. Ich wollte ihn sehen, seit ich ihn im Geografieunterricht auf der topografischen Landkarte zeigen musste. So lang, so breit, so tief, dass die Viertklässlerin in mir große Augen macht und die 36-Jährige sich fragt, was wohl passieren wird, wenn irgendwann den Chinesen, den Europäern, den Amerikanern das Wasser ausgeht. Dieses endlos scheinende Becken enthält 80% des Süßwassers auf unserem Planeten, wenn man das ewige Eis nicht mitrechnet. 



 

Und so steht eines Morgens ein Taxi vor dem Gartentor, das uns mit rissiger Windschutzscheibe und russischen Liedern, die immer klingen wie melancholische Chansons der siebziger Jahre, aus dem Birkenwald heraus fährt und in die Stadt hinein. Zum Busbahnhof, wo unsere marschrutka steht, ein Kleinbus mit Fransenvorhängen und Gepäck auf dem Dach. Unser Fahrer, der kurze, bellende Ansagen macht, unterbricht sein Telefongespräch selbst dann nicht, als die Schlaglochdichte erheblich zunimmt. 


Fünfeinhalb Stunden später spuckt sie uns, unsere von Lena eingepackte Johannisbeermarmelade, den gebratenen Blumenkohl und unsere hauptsächlich russischen Mitreisenden auf der Insel Olchon wieder aus. Olchon liegt in der Mitte des Sees, eine zwanzigminütige, kostenlose Überfahrt vom Festland entfernt. Der Reiseführer empfiehlt, die staubigen Straßen des Dorfes Khuzir, dem größten Ort der Insel, hinter sich zu lassen, um möglichst ungestört die Natur genießen zu können. Diesen Tipp schlagen wir in den Wind, schließlich wollen wir Alltag gucken, und richten uns ein in unserem hölzernen Zimmer mit zwei Einzelbetten, aber nur einem Stuhl. Die Klogrube, in der sich die Hinterlassenschaften aller Besuchernationen ganz ohne Berührungsängste vermengen, ist einen Gang über den Hof entfernt, ebenso die holzverkleidete Dusche. Beide müssen im Winter ein Höchstmaß an Selbstüberwindung erfordern. Wer will, bekommt Abendessen mit Salat zur Vorspeise und Kuchen zum Nachtisch für 350 Rubel (= 5 €) pro Person. 







Jeden Tag spazieren wir in die Umgebung. Zum Strand, fast vor der Haustür. Zu den Felsen, denen Schamanen weltweit besondere Energien zusprechen. Immer wieder durchs Dorf. Vorbei an mobilen Banjas, Schaschlikgrillstellen, versprengtem Campingmüll, Omulbuden und Quadvermietungen. Ich teste die Sprachtoleranz geduldiger oder stoischer Pfannkuchenbraterinnen und Fischverkäuferinnen, indem ich mit Mut zu unhaltbar großen Lücken in der Landessprache ordere. Um uns in der Wärme des Nachmittags zu erfrischen, versenken wir unsere Körper bis zu den Haarspitzen im frischen Wasser des Baikal. Das gebe zusätzliche Lebenszeit, hat man uns versprochen.  



 
  


Will ich den Himmel, die Luft, die Berge, das Land des Baikal beschreiben, so ziehen sich die Grenzen meiner eigenen Sprache wieder zusammen. Blau, klar, grau, weich, doch statt zu sagen, wie blau, von welcher Klarheit, welcher erhabenen grüngrauen Indifferenz und milchigen Unwirklichkeit, schwelge ich wortlos. Sylvain Tesson, der ein halbes Jahr lang in einer Holzhütte am Ufer des Baikal gelebt hat, schreibt: "Wenn die Natur denkt, sind die Landschaften Ausdruck ihrer Gedanken." Ich weiß nicht genau, was die Natur denkt, aber ich stimme mit dem überein, was sie sagt. Und die Berge liegen da, als hätte die Endlichkeit nichts mit ihnen zu tun.
Am Ende unserer russischen Sehnsuchtsexkursion stehen wir auf Lenas Einladung hin wieder vor ihrem Gartentor. Es ist ein bisschen wie nach Hause kommen, um Auf Wiedersehen zu sagen. Doch Sibirien lässt uns nicht gehen ohne ein letztes Festmahl in Irkutsk im Kreise der Freundinnen, die den Wein von der Krim dem teureren französischen Tropfen vorziehen und uns hausgemachte Pirogi und Soljanka auftischen, ohne selbst etwas anzurühren. Nicht ohne uns noch einmal das Smartphone zu reichen und zu fragen, wie es uns hier gefallen habe. Sibirien sagt "I'll miss you", stellt uns eingelegte Pilze, Rote-Beete-Salat und Kuchen hin, schießt einen letzten Selfie, umarmt uns und winkt uns um kurz nach Mitternacht am Flughafen nach. Davor trinken wir aber noch einen. Auf die Liebe. 





Eure Anja