Freitag, 27. Mai 2016

HelpX - und auf der Farm da wohnen wir...

Jetzt kann ich es ja sagen. Ich liebe Hühner. Sie sind unterhaltsame, intelligente und nicht zuletzt praktische Wesen. Wenn sie anfangen, in welken Blättern und frisch gejätetem Unkraut zu scharren, vermisse ich weder Fernseher noch Netflix-Abo. Und wenn ich das andächtig eingesammelte Ei zum Abendessen im Gemüsecurry schmecke (super, wenn man keine Lust auf Tofu oder Fleisch hat), möchte ich den Kreaturen mit den ununterbrochen hin und her zuckenden Köpfen, den neugierig pickenden Schnäbeln und den mich aus den unmöglichsten Positionen fixierenden Augen am liebsten dankbar und kumpelhaft auf die schmalen Schultern klopfen. Leider stehen die meisten Hühner aber nicht besonders auf unmittelbaren Körperkontakt.


Aber Augenkontakt geht.

Kurz vor Perth haben wir ohne Internet, ohne Auto und ohne Geld auszugeben gelebt. Wir hatten eine bequeme Matratze, ein eigenes Bad mit solargeheiztem Wasser und bekamen jeden Tag frisch gebackenes Sauerteigbrot, auf dem die salzige Butter langsam dahinschmolz. Im  Garten hat sich eine Libelle auf meinen blauen Pullover gesetzt, eine haarige Raupe ist im Eiltempo über meinen Zeigefinger gekrochen, und der flauschigste Hahn, den wir jemals gesehen haben, versuchte sich währenddessen in Tonleiterübungen. Eines der Highlights meines Tages: im Garten nachschauen, ob es eine frische Orange zu ernten gibt, die ich zum Nachtisch verspeisen kann.


Diese kreischende Federboa sparte uns morgens den Wecker.

So muss Claudia Bertani sich beim Streifen durch die Kirschplantage gefühlt haben...

Hinter uns liegt eine Minitour über die Great Ocean Road und in die Grampians. Nach fantastischen und vollgepackten drei Tagen mit großartigen Naturschauspielen, einer fröhlichen kanadisch-deutsch-englisch-japanisch-belgisch-amerikanischen Reisetruppe waren wir bereit für ein bisschen Leben abseits der stark frequentierten Routen.






Everything's bigger in Australia.
Also haben wir uns über die Internetplatform HelpX ein Zuhause auf Zeit gesucht. Wir haben ein Profil angelegt, mögliche Gastgeber, die Hilfe gebrauchen können, angeschrieben, und uns ein bisschen gefühlt wie beim Onlinedating, als die erste Antwort kam. 
Dieser Zwischenstopp abseits der Metropolen, genauer gesagt, vierzig Minuten von Perth entfernt, war der Anfang einer hoffentlich langen Karriere als HelpXer.

Als wir aus der Bahn ausstiegen, sprachen uns innerhalb von drei Minuten drei Leute unabhängig voneinander an. Sie wollten uns helfen und fragten, ob alles in Ordnung sei. Danke, wir werden abgeholt. Und danke für die freundliche Aufmerksamkeit!

Für dreimal leckere Kost pro Tag und freie Logis arbeiteten wir ab da täglich vier Stunden im Garten von Sarah und Steve, die uns mit riesengroßer Herzlickeit und  unbeschwerter Selbstverständlichkeit aufnahmen. Unkraut jäten, einen beweglichen Verschlag für die Hühner fertig fabrizieren, einen Mandarinenbaum beschneiden, Holz für den Ofen sammeln oder Mairübchen und Lauch säen. Und irgendwann während des Aufenthalts auch ein Essen für die Familie kochen. Sogar ein Wochenende gibt es, wenn man fünf Tage gearbeitet hat. Iris kommt aus einer stolzen Gärtnerdynastie. Ich stand als Kind schon auf dem Kartoffelförderband und habe eimerweise Obst aus dem Garten verspach … äh ... fachmännisch gepflückt und weiterverarbeitet. Und graben können wir spätestens seit dem Hot Water Beach auf der Coromandel/Neuseeland. Was sollte uns also noch im Weg stehen?



Der Feind. Dabei sehen sie eigentlich so hübsch aus.

Das Werkzeug.

Die Fachfrau beim Beschneiden ihres Lieblingsbaums Ni Hao.


Damit wurden wir für ein Weilchen Teil einer wundervollen, vierköpfigen Familie, die morgens um sechs Uhr aufsteht, Porridge mit selbst eingekochten Pflaumen und Brot frühstückt, zur Arbeit, in den Garten, in Kindergarten und Schule geht, nachmittags Roboter aus Pappkartons bastelt und im Spielzimmer die Holzeisenbahn im Kreis fahren lässt.


Die Sauerteigstarter Jaques und Bert

 Abends saßen wir bei Nudeln Curry oder frischen Sommerrollen (genial, um Kindern Gemüse und Salat unterzujubeln!) zusammen und haben über australische Regierungen, Zeitschriftenartikel, Reisen und deutsche Geschichte diskutiert. Samstagabend kamen Freunde zum Schweinebratenessen vorbei und der einzige Vegetarier im Raum kriegte frisch gegrillte Maiskolben und zum Nachtisch obszön schokoladige Brownies (Die bekamen die Fleischesser auch. Schade.).
Wir erfuhren viel Spannendes  über die heimische Vegetation und die Bewirtschaftung von Land mittels Feuer, wie sie die Aborigines meisterhaft verstanden haben. Mein Lieblingsfunfact: Karribäume regenerieren sich durch Buschbrände. Sie tendieren dazu, ihre Rinde abzuwerfen und dadurch Feuer zu begünstigen. Auf die Weise schaffen sie sich nebenbei die eingewanderte, konkurrierende Flora vom Hals. Steve nahm uns sogar zu einem Workshop übers Gärtnern mit, bei dem wir wieder einmal unsere Hirnwindungen daran erinnern müssen, dass man hier alles, was intensiv Sonne braucht, gen Norden ausrichtet.



Es war eine Woche ohne viel Sightseeing. Eine Woche voller kleiner, besonderer Momente. Irgendwann stand ein Känguru einfach so im Garten und begutachtete mich beim Ausbringen des Möhrensamens. Wir schauten uns an, beide regungslos, bevor es beschloss, dass der Garten zu klein für uns beide  ist und sich ein aufregenderes Objekt der Neugierde suchte. Wir haben zuvor schon Kängurus gesehen, sogar ganz aus der Nähe, aber ich kann nicht behaupten, dass sich der Anblick bereits abgenutzt hätte.
Unsere Arbeit wurde jeden Tag begleitet vom Krächzen mindestens zweier Krähen. Normalerweise klingen Vögel ja ganz fröhlich oder zumindest optimistisch. Nicht so australische Krähen. Sie hören sich an, als empfänden sie ihr Dasein zutiefst miserabel. Zum Kaputtlachen, fanden wir.
Am letzten Abend machten wir ein Picknick mit der Familie. Gegen sechs Uhr wurde der Himmel tief orangerot und verwandelte den Spielplatz, an dem wir saßen, in eine magische Kulisse. Der Kleinste reckte seinen Arm gen Himmel und rief melodramatisch: ¨I cannot reach the sky!¨ 








Wieder einmal durften wir warmherzige, kluge Menschen kennenlernen,  ein bisschen was Sinnvolles tun, die Perspektive ändern. Feine Sache.


Gekocht haben wir natürlich auch. Ein deutsches Essen war gewünscht. Wir haben uns für Kässpätzle entschieden. Dazu konnten auch die Hühner ihren Beitrag leisten. Zum Nachtisch Vanilleeis mit heißen Himbeeren.

Preisfrage: Wenn ein Schwabe und ein Thüringer in der Küche stehen, wer schabt dann die Spätzle frisch vom Brett ins siedende Wasser? Genau. Käse und gebräunte Zwiebeln drüber, und der sonst eher wählerische  Junior fordert sogar einen Nachschlag. Ich fühlte mich ein bisschen wie die Martha Stewart von Westaustralien. Darauf ein Schwarzwälder Kirschwasser.


Perfekt ausgeleuchtete Kässpätzle.




Prost, ihr Lieben! 

Eure Anja & Iris

Und nochmal eine dankbare Umarmung an Sarah und Steve (die Deutsch können, weil sie 7 Monate in Freiburg gelebt haben. Yay! :)) Ihr seid großartig! 

P.S. Filmtipp: "Babakiueria". Eine Parodie auf den Umgang von weißen Einwanderern mit Ureinwohnern. Findet sich auf den einschlägigen Videoplattformen. 

Sonntag, 22. Mai 2016

#Feschen ist kein Weg zu weit

Wir reisen mit einigermaßen leichtem Gepäck.
Deshalb auf modischen Schick, ein peppiges Äußeres verzichten? Mais non!
Wir finden, dass - neben einem starken Willen zum entschlossenen Öffnen von Plumpsklotüren - Stil und natürliche Schönheit auch auf Reisen nicht auf der Strecke bleiben sollten. Dieses Anliegen hat uns veranlasst, unser Fashion-Knowhow in sinisterster Ernsthaftigkeit zur folgenden Ratgeberstrecke zusammenzufassen.
Dementsprechend haben wir rein gar nichts gescheut, um an dieser Stelle mit Hochglanzbildern von unseren Outfits of the Month und den heißesten Tipps für stylisches Reisen aufwarten zu können.






Mehrere Schichten und wärmende Extras verwandeln ein Beachoutfit in lässige Gletschertauglichkeit. So könnt ihr dieselben Sachen mehrere Tage hintereinander, wieder und wieder und wieder tragen. 
Denn warum die Kleidung wechseln, wenn man ohnehin nicht geduscht ist?! An der frischen Luft ist alter Schweiß schnell vergessen. (Tipp: Beim Autofahren ruhig zwei Fenster öffnen, damit es effektiv durchzieht.) Dieses Prozedere erspart obendrein jeden Partnerschaftstest.

Achtet auf farbliche Abstimmung und verzichtet nicht auf einen Farbtupfer als augenzwinkerndes, aber liebevolles Detail. Gewagte Materialmixes und überraschende Kombinationen zeigen anderen Wanderern, dass ihr Wert auf durchdachte Stilbrüche legt und vor Provokation nicht zurückschreckt.

Sprüche auf Reisetextilien brechen das Eis zwischen euch und den Einheimischen. Stellt euch auf Fragen und Komplimente ein!

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Ein legeres Dekolleté hat Charme. Damit lassen sich mit Heilsalbe beschmierte Brandblasen nach dem beherzten Anbraten eines Lachsfilets effektvoll in Szene setzen.

Dazu passt ein öliger Hairstyle.

Achtet beim Einkauf auf Materialien! Hundertprozentige Baumwolle ist ideal und bleibt auch nach dem Aufbruch am Morgen noch lange klamm und erfrischend.

Nutzt eure Körperwärme, um verknitterte Stoffe direkt am Körper zu glätten. Oder tut meiner und eurer Mutter einen Gefallen und legt die Sachen einfach gleich ordentlich zusammen.

Flache, farbenfrohe Schuhe und ein weiter Hosenschnitt sind perfekt, um kurze Beine frech und gekonnt zu akzentuieren.

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Ungewöhnliche Accessoires definieren ein bekanntes Outfit im Handumdrehen neu. (Bewundernde) Blicke werden euch sicher sein.



Nutzt die Zeit vor der Abreise sinnvoll und befasst euch mit Falttechniken, um mit wenigen Handgriffen ein simples Tuch in eine exotische Pracht und eure Hose in luftige Shorts verwandeln zu können. Variationsfreude ist das Stichwort! Eurer Fantasie sind keine Grenzen gesetzt, wenn es darum geht, bleiche mitteleuropäische Haut kreativ zu inszenieren.

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Insektenverstichelte Knöchel bekommen ihren großen Auftritt in Caprileggins. Kurze Beinkleidung ist besonders tierfreundlich, da sie Mücken mehr Hautfläche zur Ernährung bietet als herkömmliche Hosen. An verregneten Tagen ist das Aufkratzen der Stiche eine schöne Abwechslung zum Sightseeing-Einerlei.

Ein bequemer Allrounder ist das Tages- und Nachtkleid. 
24-92 Stunden nonstop wohlfühlen. 
Praktisch: Wenn ihr immer wieder dieselben Sachen tragt, werdet ihr von anderen Reisenden schneller wiedererkannt. (Uns ist bewusst, dass dies nicht ganz leicht ist für alle diejenigen, die ihre Outfits ungern ein zweites Mal tragen, weil das Primark-Shirt sowieso nach der ersten Wäsche vom Körper zu fallen neigt, aber Reisen macht ja erst außerhalb der Komfortzone ordentlich Spaß.)

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Jedes Kleidungsstück, das ihr mitnehmt, sollte idealerweise mehr als eine Funktion erfüllen. Modische Abwechslung mit geöffnetem und geschlossenem Reißverschluss, Kälteschutz und Tarnung eines Bad-Hair-Days bietet zum Beispiel eine einzige Kapuzenjacke.

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Sehr dünn sein macht euer Gepäck noch leichter, schließlich müsst ihr weniger Textil mit euch herumschleppen. Viel tragen könnt ihr dann eh nicht mehr. Eine tolle Initiative kommt gerade aus China: die A4-Taille. Dabei mitzumachen hat Vorteile auch für Reisende: Ihr müsst keine Unterkünfte mit Küche buchen, spart Geld, weil ihr an Supermarkt und Restaurant vorbeilaufen könnt, und man kann euch leichter ins Krankenhaus tragen, wenn ihr zusammengebrochen seid.



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Zum Schluss noch ein persönlich getesteter Kosmetiktipp:
Nimmt der Damenbart Hipsterausmaße an? Demonstrieren die Augenbrauen marxistische Ambitionen? Kein Grund, mit trockenem Gaumen das wertvolle Handyguthaben mit dem Stöbern nach passenden Youtube-Anleitungen zu verschleudern, den nächstgelegenen Drugstore leer zu haulen oder sich ergebenst Mutti Natur zu unterwerfen. Einfach den Gasofen aufdrehen und ein Weilchen das Gas strömen lassen, bevor ihr das Türchen öffnet, um das Feuerzeug reinzuhalten. Neben einem filmreifen Lichteffekt werdet ihr mit einer Haut wie von der Sonne geküsst belohnt und lästige Gesichtsbehaarung ist kein Thema mehr. Wenn euch eure Sicherheit am Herzen liegt, lasst es zuerst die Kinder ausprobieren!

Und schließlich das Wichtigste: Seid aufmerksam und lasst euch von Einheimischen und deren Style inspirieren! Ihr seid schließlich nicht umsonst so weit gereist.



Wir gehen uns jetzt fürs Rumsitzen nach dem Abendessen umziehen.

Liebe Grüße vom Planet Fashion,

Anja & Iris

Mittwoch, 11. Mai 2016

Waltzing St. Kilda

“Australien ist einer von weltweit lediglich fünf Kontinenten. Australien ist selten." Rainald Grebe

Rosmarin sei gut für mentale Klarheit, sagt Amber, die jeden Sonntag in den St. Kilda Community Garden kommt, um die Pflanzen zu bewässern. Vielleicht sollte man nach dem Aufstehen lieber an einem Zweig Rosmarin schnuppern, als Kaffee hinunter zu stürzen. In Melbourne, nach Sydney unsere zweite australische Großstadtdestination, hat diese Idee vermutlich nur begrenzte Aussicht auf erfolgreiche Umsetzung, denn ich weiß nicht, wo man hingehen muss, um hier einen schlechten Kaffee zu finden. Vom Aufwachen an stolpern die Gedanken recht zügig zum morgendlichen Flat White (Milchkaffee). Und das mir, einer passionierten Kräutertee-Trinkerin! 


Mit und ohne Kaffee charmant zum Gaumen: Mini-Cupcakes.

Der Pappbecher mit lippenfreundlich gestanztem Plastikdeckel gehört - nicht nur in dieser Stadt - zur Grundaustattung und ich muss mich anstrengen, sie nicht zu zählen und auszurechnen, was das täglich, wöchentlich, jährlich an Müllaufkommen bedeutet: Die figurbewusste Teeniejoggerin, der bis zum Septum tätowierten Hipster, der schaukelschubsende Papa - jeder hat ständig Becher oder Plastikflasche in der Hand. Seit wir unterwegs sind, fällt mir immer mehr auf, wie viele Menschen mit uns unterwegs sind, und wie viel 
wir alle dabei, nebenbei, konsumieren: Kaffee-, Saft- und Smoothiebecher, Plastikflaschen … Alles nichts Neues. Aber man ist 
erstaunt, was man so alles um sich herum wahrnimmt und bewusster verarbeitet, wenn man nicht acht bis neun Stunden am Tag arbeitet.
Darum befinden wir uns seit geraumer Zeit in Begleitung von wiederverwendbaren Edelstahl-Trinkflaschen und eines gläsernen Trinkbechers für den Kaffee auf die Hand. Sogar meine Tupperdose halte ich der Frau im Sushiladen unter die Nase, bevor sie das Essen in Wegwerfplastik verpacken und in eine Plastiktüte stecken kann. Alles keine brandneuen Ideen. Aber ein Anfang.  


Pretty in Pink: Mein neuer Mitnehmbecher. Fehlt nur der passende Nagellack.
Passend dazu sagt Ben, der uns bei der Aboriginal Heritage Tour im Botanischen Garten Teebaumnadeln zwischen den Fingern verreiben und auf Graswurzeln herumkauen lässt: “If we take care of the land, the land will take care of us.” Um zu wissen, was ich daraus und aus all den anderen Dingen, die ich sehe und erlebe, machen werde, braucht es wohl noch ein paar Zweige Rosmarin, aber den Anfang machen Konsumreduzierung (denn was man nicht einkauft, muss man nicht rumtragen), Plastikverzicht, soweit möglich, und ab demnächst Farmarbeit.

Nein, dieses Kraut wirkt nicht bewusstseinserweiternd.
Aber es schmeckt nach rohen Erbsen.

Räucherzeremonie zum Willkommen.
Shrine of Rememberance beim Botanischen Garten.

Jenseits des kunststöfflichen Schwermutstropfens ist die Stadt ein einziger Genuss. Wir nehmen uns ein Zimmer mit eigenem Bad (!) und Schäferhundteenager in einem frisch renovierten Haus mitten in St. Kilda. An jeder Ecke werden Essen und Trinken zelebriert - in Hipster-Cafés, an Food-Trucks, auf dem Prahran-Markt. Na, wenn das hier halt so Sitte ist... lassen wir uns mal nicht lange mit dem Nudelholz drohen und feiern mit. Schon stellt der vollbärtige Barrista perfekte Blatt-, Blumen- und Herzchenkreationen in der Milchkaffeehaube vor uns hin. Der schüchterne, bebrillte Kellner, der heute seinen ersten Tag hat, bringt mit Beeren dekorierten Porridge oder mit Avocado und pochierten Eiern beglücktes Sauerteigbrot. Das erleichtert die Mühen des ersten Aufsetzens von rechtem und linkem Fuß neben dem Bett. Auf dem zentralen Federation Square bieten sie ja einmal die Woche gratis Yoga, Tai Chi und Qi Gong an. Doch das zeitige Aufstehen ist seit dem Zurücklassen des Büroschreibtischs nicht unbedingt einfacher geworden … Immerhin zur wöchentlichen Mittagsmeditation am Dienstag schaffe ich es. Friedfertigkeit, Geduld und Akzeptanz der gegenwärtigen Situation - das perfekte Thema, denn in Städten tendiere ich aufgrund der Vielfalt der Möglichkeiten - und des in Touristenkreisen inflationär gebrauchten Ausdrucks "must-see" gern zum Durchdrehen. Meist führt das dazu, dass ich dann gar nichts mehr mache, sondern stur auf einem Platz sitzenbleibe, Leute gucke und dem inneren Koffer die Schnallen poliere.


Bitte mal die Äpfel mit den Birnen vergleichen.





Später verhindern die perfekt kugelrundgerollte Schokomousse-Eiscreme und eine Erdbeercremeschnitte in einem der Kuchenpaläste auf der Acland Street ein unnötiges Absinken des Cholesterinspiegels vor dem Abendessen in unserer Lieblingspizzeria.






Genießen lässt sich, bis die Rechnung im (kunst-)ledernen Büchlein serviert wird und der Puls sich nicht nur wegen Koffein- und Zuckerkonsums drastisch erhöht - zum Glück sind die glitzernden Stadtansichten bei Nacht, Tramfahrten in der Innenstadt, die historische Straßenbahn Nr. 35, die Spaziergänge im fantastischen Royal Botanic Garden oder der meditative Blick aufs Meer kostenlos, sonst wäre unser Budget - und unser Hosenbund - wohl bald nicht mehr zu retten.


Ja, ich akzeptiere die gegenwärtige Situation.


Im Bild: Ein Hardcore-Slackline-Profi. Und ein Franzose mit Strohhut.




Weniger günstig, aber Kultur: Filmfestivals, Kunstausstellungen, Führungen, Theater und Musik überall machen die Entscheidung nicht leicht. Marilyn Monroe, Ai Weiwei, Virginia Woolf? In einer Übersprungshandlung geben wir zunächst dem Kino (sehr empfehlenswert: der isländische Film “Rams”) den Vorzug und fassen uns beim Bezahlen von 20 Dollar pro Karte fest bei den schwitzenden Händen. Wenige Tage später wissen wir, dass es auch teurer geht: Das Spanische Filmfestival ist in der Stadt und der Kinopreis klettert um weitere fünf auf 25 Dollar, die ich über den Tresen zittere. Immerhin bekommen wir zusätzlich zu den spanischsprachigen Kurzfilmen vorab ein Glaserl Schaumwein, eine eklektische Auswahl von pralinengroßen Küchlein und Livegitarrenmusik. Sag nochmal einer was über Preis-Leistung. 



Theater: "A Room of one's own"






Passenderweise haben wir uns mittlerweile in eine wesentlich kostenbewusstere Unterkunft im weniger angesagten Westen der Stadt verlegt. In West Footscray gibt es viele Neubauten und nur ein einziges Café, dafür aber sieben indische Restaurants auf ca. 150 Metern Straße. Ein völlig anderes Melbourne-Erlebnis, wenn man nicht nach dem Aufstehen sinniert, welches Café heute von unserem Reisebudget profitieren wird, sondern seinen Toast selbst anrichtet und danach zur S-Bahn stiefelt, um in den Central Business District 
zu gelangen. Statt - wie in St. Kilda - über Inneneinrichtung, Hochzeit auf Bali, australischen Fußball und eine-Million-Dollar-Häuser, sprechen wir hier mit unseren Vermietern, einem kolumbianischen Einwandererpaar, über Korruption, permanente Staatsbürgerschaft, Rassismus, Englischlernen und Bewerbungen. Und wir erfahren, dass Kolumbianer Spitzenkaffee anbauen, aber angeblich keinen leckeren Kaffee kochen können. Auch egal. Jenseits der Stadtgrenzen von Melbourne will ich eh nie wieder welchen trinken.



Dem inneren Kind haben wir vor dem Umzug noch eine Fahrt in der über 100 Jahre alten Achterbahn im Lunapark spendiert und uns gefreut, dass Zuckerwatte hier ganz märchenhaft “Fairy Floss” genannt wird. Dann sind wir, lauter kreischend als die zwei Zehnjährigen hinter uns, im vordersten Wagen die Holzbahn entlanggeprescht, bevor wir uns wieder moderat in den erwachsenen Straßentrubel eingereiht haben.







Apropos Kreischen …. oder vielmehr pssssst: Beim Betreten der 
State Library möchte ich eigentlich gleich nochmal studieren, um einen Grund zu haben, immer wieder dieses majestätische, freundlich helle Gebäude mit dem kunstvollen Oberlicht, den alten Holzdrehstühlen und grünen Leselampen aufsuchen zu müssen. Einen Nachmittag lang recherchieren wir an einem der kostenlosen Computer und durchstöbern die Regale im Lesesaal. Und dann noch einen. Und noch einen. Schließlich macht es viel mehr Spaß, in dieser Bibliothek zu sein, als zuhause unromantisch das Tablet zu streicheln.







Außerdem stehen wir in Melbourne vor einer der größten Entscheidungen unserer bisherigen Reise: Wie weiter? Und vor allem: Wohin? War Australien eigentlich immer schon so groß? Und dann: Wie teuer? Plötzlich scheinen die paar Stunden Recherche, die wir bisher mehr oder weniger regelmäßig investiert haben, nicht mehr auszureichen, denn die Optionen sind endlos. Und so diskutieren wir über Pancakes und Birchermüesli, über vietnamesischen Glasnudeln und Kokosnusswasser aus der Kokosnuss (ein wundervolles Getränk UND Nachtisch in seiner eigenen Verpackung!), über der süßen Pizza mit dunkler Schokolade und gebackenen Birnen, bis uns die Möglichkeiten den Kopf verdreht haben und wir uns schon fast nicht mehr anschauen können vor lauter: “Wir könnten ja aber auch …” Das Bevor- und Berücksichtigen aller Bedürfnisse ist selbst zu zweit schon eine Herausforderung, aber unanstrengende Demokratie ist so wahrscheinlich wie schmerzloses Bikinizonenwaxing. Und am Ende freut man sich irgendwie mehr über die gelungene Integration allen Wollens, als wenn jemand im Reisebüro einfach irgendwo geklickt hätte.

Wir haben akzeptiert, dass auch auf Reisen nicht alles reibungslos läuft. Aber frei nach Virginia Woolf sind wir auch einfach glücklich, das Geld und den Freiraum zu haben, um überhaupt hier sein zu können.
Reich mir mal den Rosmarin rüber.




Liebe Grüße aus Australien,

Anja