Donnerstag, 7. April 2016

The Crossing

Manchmal ist es gut, nicht zu wissen, was der Tag bringt. Sonst würde man wahrscheinlich vielen Dingen aus dem Weg gehen oder versuchen, sie vorab zu den eigenen Gunsten zu ändern.

Das Tongariro Alpine Crossing ist nichts für Leute, die Einsamkeit in der Wildnis suchen. Menschen mögen hilft.


Als wir uns im Tross mit ein paar hundert Leuten morgens um acht auf den Weg machen, den Rucksack voll mit Broten, Bananen, Äpfeln, Keksen und Wasser, wissen wir lediglich, dass wir in voraussichtlich sieben oder mehr Stunden 20 Kilometer Vulkanlandschaft erklimmen und durchwandern werden.
Wir glauben, dass wir den Weg von Anfang bis Ende zusammen gehen, an kniffligen Stellen einander helfen, auf den Anderen warten und in der Zwischenzeit ein paar Fotos knipsen oder Kekse knabbern werden.
Die Sonne ist anfangs gleißend hell, ohne zu wärmen, und ich kann nicht einmal den Weg vor mir erkennen. Noch sind die Temperaturen einstellig, wir tragen Mützen und Kapuzen.
Nach etwa einer Stunde bzw. fünf bis sechs Kilometern und einer Stufenabfolge, die schon ganz treffend “The Devil’s Staircase” genannt wird, erhebt sich rechts von uns ein Berg in rot und schwarz. Mount Ngauruhoe, 2.291 Meter hoch, für diejenigen, die, anders als ich, Peter Jacksons Elben- und Hobbit-Opus gesehen haben, Mount Doom, der Schicksalsberg. Ein Schild verkündet etwa drei Stunden Wanderzeit auf den Gipfel und zurück. Zusätzlich zu weiteren viereinhalb Stunden, die ohnehin noch vor uns liegen. Warum auch immer übt dieser aktive Vulkan eine Magie auf mich aus und ich beschließe, dass sieben Stunden machbar sein werden.


Eine Stunde später weiß ich, dass dies die beschissenste Idee war, die ich je hatte.






Weitere eineinhalb Stunden später, beim Verzehr der besten Banane, die ich je gegessen habe, versöhne ich mich mit meiner protestantischen Lebenshaltung, dass die wertvollsten Ein- und Aussichten im Leben nicht wahllos auf der Straße herumstehen, sondern größtenteils - und hier ist es gar nicht so leicht, nicht einer Kriegsmetaphorik zu verfallen - mit Herzrasen, Schweiß und anderen salzigen Flüssigkeiten hart erarbeitet werden. Und dass der Wunsch umzudrehen einen ganz schön kräftigen Griff hat - dass man ihn aber auch getrost bis zum Gipfel mit hinaufnehmen kann, wenn man den längeren Atem hat.



Hätte ich geahnt, welches Felsenkletter- und Geröllrutschabenteuer auf diesem Vulkan ohne vorgegebenen Pfad auf mich wartet, vorher gewusst, dass ich insgesamt elf Stunden lang unterwegs sein würde, ich hätte vermutlich ein nettes Päuschen mit Iris am Fuße des Vulkans gemacht und ihn wohlwollend von unten bestaunt.
Stattdessen tippe ich mir mehr als einmal innerlich an die schweiß- und staubverklebte Stirn und gebe mir Namen, die ich hier nicht wiederholen sollte. Statt drei ringe ich knappe vier Stunden lang mit Steigung, Schwerkraft, Sonneneinstrahlung und mir selbst.
Mittendrin komme ich ins Gespräch, eigentlich eher ins Rufen und Gestikulieren, mit einem anderen Wanderer. Mit ihm, seinen zwei Freunden und mit vom steilen Abstieg zittrigen Knien werde ich den Rest des Weges, den nächsten steilen Anstieg, die sich ziehenden Serpentinen bergab auch noch schaffen. Längst sind all die Menschen, die am Morgen mit uns losgelaufen sind, mehr oder minder federnden Schrittes weitergezogen. Fast allein stehen wir am Emerald Lake und dem Blue Lake und später oberhalb des glatten Wasserspiegels des Lake Taupo. Wir teilen Kekse und Gummibärchen, Wanderstöcke und Reisegeschichten. Mein Herz hat sich langsam wieder beruhigt.




Am Ende sitzen Iris - die letztlich ganze vier Stunden geduldig am Ziel auf mich warten wird - und ich erst gegen halb acht abends wieder zusammen im fast menschenleeren Burger King von Turangi und tauschen ermattet und beseelt unsere Geschichten aus, lachen über ein Loch im Strumpf, unsere verstaubten Schuhe und den verräterisch langsamen und breitbeinigen Gang zum Serviettenspender.

An diesem Tag, der so anders war, als ich es je erwartet hätte, habe ich mich selbst überrascht, was wohl eines der besten Dinge ist, die man so erleben kann, wenn man sich seit immerhin ein paar Jahrzehnten zu kennen glaubt.

Diesen Tag, dieses Erlebnis, dieses Gefühl widme ich meiner Oma, die ihre beschwerlichsten Tage nun hinter sich hat. Sie hat mich gelehrt, dass man immer noch einen Schritt weiter gehen kann, wenn man glaubt, seine Grenze schon erreicht zu haben. Sie hat mir gezeigt, dass im Moment tiefster Traurigkeit und größter Anstrengung immer ein Lächeln möglich ist. Sie war die Meisterin der Überraschung.
Sie hatte ein großes und starkes Herz.

Freitag, 1. April 2016

Achtung, Reisevirus! oder Off the Road

Ich saß auf Iris’ Frotteehandtuch.
Links: drei Kilometer Strand, keine Menschenseele weit und breit.
Rechts: ein Kilometer Strand, niemand in Sichtweite.
Über mir: Das durchgedrehte Synthetik-Orgeln und Knick-Knacken eines Tui.
Unter mir: weizengelber und hirsegrober Sand.
Hinter mir: die olle Kiwi.
Vor mir: Meer, blau, friedlich.
Ich schmollte.
Warum?
Weil unsere rollenden vier Wände seit zwei Tagen bei jeder Lenkbewegung ein Geräusch machten, als würde man einen Kiwi-Schnabel über rostiges Wellblech reißen?
Weil ich ein weißes T-Shirt angezogen hatte und es trotzdem für eine gute Idee hielt, mit roter Beete zu hantieren, was sich - zumindest für das Shirt - nicht ausgezahlt hatte?
Weil wir in der kommenden Nacht auf einem übervölkerten Platz neben einer Baustelle schlafen sollten, in der ab circa 5:30 Uhr morgens das Rufen und Hupen anschwellen würde?
Nein, nein und nein, das wusste ich ja noch gar nicht.
Ich hatte mir einen Virus eingefangen, der mir auf den Magen schlug. Er erwischt viele Touristen, manchmal gleich zu Anfang ihrer Reise, selten auch erst gegen Ende: Highlight-Gier. Auch bekannt als Hotspot-Sammelwut oder Geheimtipp-Manie.
Die Angst, etwas zu verpassen, wenn man die nächste Kurve nicht auch umrundet, den Berg da hinten nicht ebenfalls noch erklimmt und den Schildern nicht folgt.



In unserem Campervan brachen wir knapp einen Monat lang jeden Morgen erneut auf, durch eine unsichtbare Reiseführer-Nabelschnur verbunden mit all den anderen Vans, Wohnmobilen, Jeeps, Zweirädern und heruntergekommenen Autos, deren Besitzer hoffen, sie am Ende ihrer monatelangen Tour an einen anderen schnäppchenjagenden Neuankömmling abtreten zu können.

Alle miteinander waren wir abenteuer- und sensationslustige Linkssteuerer, Radfahrer und Wanderer, das Handy oder die digitale Spiegelreflexkamera immer griffbereit, wenn der nächste Aussichtspunkt oder der nächste Nationalpark angekündigt wurden. Wir wirkten dabei fast hundertprozentig sicher, dass noch nie ein Mensch vor uns dieses Foto von dieser Landschaft an diesem Aussichtspunkt gemacht hat -- auch wenn um uns herum gerade eine Busladung Chinesen posierte, ein französisches Outdoorpärchen einen originellen Selfie ausprobierte und drei Deutsche mit ernsten Mienen ihre Hightech-Kameras besonders dicht an das abzulichtende Objekt schoben.
Im Dunstkreis dieser Adventure-Gang fiel es manchmal schwer, sich der tagträumerischen Ruhe hinzugeben, nicht alles gesehen haben zu müssen.
Vielleicht lag es daran, dass ich an diesem einen Nachmittag nicht in der Lage war, einfach faul an einem der paradiesischen Strände des Abel Tasman Nationalparks zu liegen, sondern zwei Stunden damit zubrachte, die Kiwi im zweiten Gang die Serpentinenstraße hinaufzuzwingen, die sich derart zwischen uns und der Golden Bay wand, dass man glauben konnte, sie wolle partout nicht befahren werden. Mit dem Ergebnis, dass wir nach diesen zwei Stunden an einem ganz wundervollen Strand saßen. Den wir in vergleichbarer Qualität aber auch 40 Kilometer zuvor in Spuckweite hätten haben können.
Ich war sicher nicht die Einzige, die sich dem nicht entziehen konnte.



Unsere Runde auf der Südinsel hat uns an die schönsten und fotogensten Punkte Neuseelands geführt. Zum Lake Pukaki, in die Catlins, die Fjordlands, die Westküste hoch in den Abel Tasman und zum Abschluss durch Marlborough bis nach Kaikoura, wo jährlich immerhin eine Million Touristen angespült werden. 




Immer idiotensicher geleitet von Hinweissschildern, Infopunkten und Broschüren, die das Land für die Invasion der Nomaden bereithält. Dabei fiel uns immer wieder auf, dass vielen Polos, Vespuccis und Columbussens häufig an einem Point of starkem Interest die Mundwinkel in Richtung Multifunktionsgürtelschnalle sinken, wenn sie feststellen, dass sie nicht die einzigen Käufer des Lonely-Planet-Reiseführers waren. Eigentlich ist es doch gar nicht so schlimm, einen Ort zusammen mit vielen Anderen zu besichtigen. Sondern vielmehr, einen Ort zusammen mit vielen schlecht gelaunten Anderen zu besichtigen. Aber an all diesen einzigartigen Orten scheinen die meisten Leute nicht mal ihre 150 engsten Facebook-Freunde dabei haben zu wollen und können sich offenbar erst recht keine Fröhlichkeit in der Gegenwart von Fremden abringen. Das ist dann wohl Highlight-Gier im fortgeschrittenen Stadium.
Deshalb ließen wir manchmal die Kiwi einfach am Las Vegas der dicht beparkten Touristeninfos vorbeirollen und wissen jetzt zum Beispiel nur von Internetrecherchen, wie die berühmten Pancake Rocks aussehen. Lieber nur zwei Sachen gesehen und dabei ein ehrlich gemeintes Lächeln auf den Lippen, als fünf Dinge abgefeiert und dabei innerlich die Schultern verknotet. Das hat eigentlich immer funktioniert. Nur eben nicht an der Golden Bay.


Von einem guten Gespräch und einer Stunde Schwimmen habe ich mir die Flausen dann aber wieder austreiben lassen. Auch auf Reisen gilt, dass das Gras hinter den sieben Bergen mindestens noch grüner sein muss als das im eigenen Garten, wenn man das auch zuhause schon annimmt. Und am schwersten im Gepäck wiegen sicher nicht immer die Bücher, die ich einfach nicht zuhause lassen konnte, sondern oft eher der Gedankenrucksack, in den beim Packen hin und wieder auch Ängste, Zweifel oder Vorurteile hineinrutschen. Und gerade die bringen manchmal die ganze Ladung aus der Balance.





Die olle Kiwi hat uns erleben lassen, wie es ist, den eigenen Hausrat jeden Tag spazieren zu fahren, welche Stolpersteine und genialen Erfahrungen diese Art des Reisens bereithält. Mit ihr standen wir in der ersten Reihe, um Surfer im Sonnenuntergang zu beobachten und dabei zu Abend zu essen. Sie hat uns klargemacht, wieviel Frischwasser wir im Alltag mal eben verbrauchen, ohne darüber nachzudenken. Und sie war eine exzellente Unterstützung beim Kopfstand-Üben. Kia Ora, olle Kiwi!





Nach einem Monat in unserem liebgewonnenen Blechgehäuse war es Zeit, die Nabelschnur zu durchtrennen und der Camperkolonne nur noch vom Gehsteig aus zuzuwinken. Zeit, ein paar Einheimische kennen zu lernen.


The Smash Palace. Outdoor-Bar in Christchurch.

Wall Art in Christchurch.


Unsere Weiterreise führte uns von Christchurch nach Picton und mit der Fähre auf die Nordinsel - mittenhinein in das Leben von Sue und Liz und ihren zwei Katzen plus arthritisgeplagtem Hund. Sie luden uns nicht nur in ihr dreistöckiges, japanisch dekoriertes Haus, sondern auch zum Barbecue ein, unterhielten sich mit uns über Neuseeland, Maorikultur und japanische Teezeremonien, während wir auf dem Teppich saßen und der Hund sich abwechselnd von uns den Bauch kraulen ließ. Sie versorgten uns mit Tipps zu Wellington, und darüber hinaus mit genau der Art von Alltag, die das Leben im Campervan nicht kennt.
Drei Tage lang war das weich gefederte Bett in ihrem ausgebauten Keller unsere Ausgangsbasis für Ausflüge ins Kino, in Cafés und zur sicher außergewöhnlichsten Theaterinszenierung von ‘Dr Jekyll und Mr Hyde’. Im Te Papa Museum erfuhren wir Ungewusstes über Maori, Einwanderer, Natur und Kultur Neuseelands. Wir suchten und fanden Literaturzitate auf dem Writers’ Walk am Hafen, durchkämmten den Botanischen Garten nach fünf Minuten steiler Fahrt mit dem Cable Car (hügeltechnisch gesehen ist Wellington das Stuttgart der südlichen Hemisphäre) und kauften Salzkaramel-Schokolade und Erdnussbutter-Himbeer-Riegel in der Wellington Chocolate Factory. (Bis Redaktionsschluss wollte diese sich noch nicht zum Status meiner Bewerbung äußern.)


Café Baobab, Newtown

Writers' Walk am Hafen von Wellington

Für vier Dollar und ein Retro-Gefühl: die Fahrt im Cable Car

Algen, Sprossen und eingelegte Shiitakepilze: The Ramen Shop.

Extra für uns aufgeschäumt: Matcha und dazu handgefertigte Süßigkeiten in Ginkoblattform.


Nach dem städtischen Auftanken reisten wir 40 Kilometer weiter gen Norden zu Natalie, die mit ihrer Familie in einem kleinen Paradies lebt und es nach dem Permaculture-Prinzip bewirtschaftet. Hier diskutierten wir übers Brotbacken, lauschten der abendlichen Hausmusik und naschten von der köstlichen Pizza, die Natalie ihrer Familie und den anderen Hausgästen auftischte.





Am nächsten Tag stehe ich im Garten.
Vor mir: Ein Beet, auf dem underschön und grün das Unkraut steht.
Hinter mir: pickende Hühner und zwei krähende Hähne.
Unter mir: Regenwürmer, Wanzen und flüchtende Spinnen.
Links von mir: Mangold-Pflanzen.
Rechts von mir: Natalie, die ein Beet umgräbt.
Ich setze die Gummisohle meines Boots auf den schmalen Metallrand der Harke und versenke die langen Zinken mithilfe meines Körpergewichts im lehmigen Boden. So, wie ich es als Kind bei meinem Opa, in seiner staubblauen Jacke und seinen schweren Arbeitsschuhen, gesehen habe, während ich selbst Kartoffelkäfer und -larven von den Blättern sammelte. Ich wuchte die umgegrabene Erde auf einen Haufen, sortiere Wurzeln und Knollen aus, werfe sie in einen Eimer und beobachte die sich aufgebracht kringelnden Regenwürmer, deren Samstagnachmittagsroutine ich gerade offenbar gestört habe. Meine Schuhe sind dreckverkrustet und unter meinen Fingernägeln sammelt sich ein Großteil des Beets. Morgen werde ich mit Iris Blaubeeren pflücken und unter der qualifizierten Anleitung von Natalies achtjährigem Sohn nach 36 Jahren endlich lernen, wie man Steine übers Wasser springen lässt.
Mein Virus zuckt nicht einmal mehr.




Entspannte Grüße,

Eure Anja