Donnerstag, 22. Dezember 2016

Die ganze Welt in Jordanien

"Amman!" Das Gesicht des Sicherheitsbeamten am Flughafen hellt sich auf.
"Arbeit oder Vergnügen?"
"Vergnügen."
"Können wir tauschen?"
Auf keinen Fall.
Ich habe meinen Rucksack auf dem Rücken, ein Ticket mit meinem Namen darauf in der Hand. Ich grinse.
Jordanien ist ein besonderes Ziel. Ich werde an einem Projekt teilnehmen, das sich "Greening the Desert" nennt und nach Permakulturprinzipien bewirtschaftet wird. Neue Leute, neues Land, neuer Stoff für den Kopf. Neu ist genau das, was ich nach dem Indien-Fiasko Ende August brauche.
So mache ich mich auf, um am tiefsten Punkt der Erde zwei Wochen lang die Schulbank zu drücken und mich mit Leuten darüber auszutauschen, wie man mit Ideen und Menschenverstand die Welt theoretisch davor bewahren könnte, den Bach runterzugehen. Und während also Chemieriese Bayer seine Pläne in die Tat umsetzt, Monsanto samt dessen Allesvernichter Roundup zu erwerben, während die Welt noch davon ausgeht, dass der Klimawandelverweigerer mit dem orangenen Teint wieder dorthin verschwinden wird, wo er herkam, begeistern wir uns bei 35 Grad im Schatten für Kompost, Food Forests, Nischen, Systeme und Alternativwährungen.
Was für die meisten immer ein bisschen nach Blumenbeet und Öko klingt, ist ein fein durchdachtes Konzept, dass das ganze Leben umfasst. Weil man den Menschen nicht losgelöst von seinem Planeten und seinen Lebensumständen denken kann. Anbau. Ernährung. Architektur. Wasserkreislauf. Energie. Mitmenschen. Ein Leben, das darauf ausgelegt ist, Ressourcen nicht gedankenlos zu verschwenden und Natur nicht als etwas zu sehen, das irgendwo da draußen ist, sondern etwas, das wir sind. Und dass wir deshalb nicht einfach 'die Umwelt', ein lästiges Unkraut oder ungeliebtes Insekt zerstören, sondern uns selbst. Ich bastele noch an einer soliden Argumentation dafür, hierher geflogen zu sein. Mehr als "Laufen wäre zu weit gewesen" bringe ich bisher nicht zustande.
Unser Duschwasser bewässert gefiltert den Garten. Die Komposttoiletten verarbeiten all das, was unsere Körper nicht mehr benötigen, unter Zugabe von Sägespänen zu Dünger. Die Hühner und die Wurmfarm in einer ausgedienten Badewanne kümmern sich um die Küchenabfälle. Was anderswo auf der Müllkippe vermodert, wird hier zu Eiern und Fruchtbarkeit. Jedes Element in diesem System hat mehrere Funktionen; alles baut aufeinander auf. Lediglich die Weckfunktion des Hahnes ist kaputt. Nach seiner inneren Uhr ist die Nacht schon um ein Uhr morgens zu Ende.





 Einige von uns haben ihr Zelt im Garten aufgeschlagen, andere schlafen auf dünnen Matten im Haus. Meine Anschaffung aus der Mongolei errichte ich an einem Platz mit möglichst wenig Gefälle. Trotzdem gleite ich ab da jede Nacht sachte in die untere linke Ecke meiner Behausung. Wir beglückwünschen einander, wenn wir nach Einbruch  der Dunkelheit eine kaum merklich flüsternde Windbrise abbekommen haben oder dass die Hunde der Nachbarschaft langsam ruhiger werden, je weiter der Vollmond zurückliegt.  






Wir, das sind um die 25 Köpfe aus fast ebenso vielen Ländern, mit ebenso vielen Zukunftsplänen und Lebensgeschichten.
Da ist Nacim, der vollbärtige Muslim, der mit Anfang zwanzig von Algerien übers Mittelmeer fliehen wollte und nie erfahren hat, ob die, die es gewagt haben, je angekommen sind. Er sagt Dinge wie: "Tell me about your experience, I want to educate myself." Er spricht vier Sprachen und erzählt mit warmer Stimme davon, dass manche Menschen in Europa ihre Kinder an die Hand nehmen und etwas schneller laufen, wenn sie ihm begegnen. Die zarte Französin Marie, die humanitäre Projekte umsetzen will und als nächstes auf die Philippinen reisen wird. Yaman, der Architekt mit den traurigen Augen, dessen Mutter Kinderbücher schreibt und dessen Cousin eine Woche zuvor von israelischen Soldaten erschossen wurde. Josh, der Selbstversorger mit einer neunköpfigen Familie in Idaho. Helder, der in Portugal beim Film arbeitet und meint, die Zeit sei gekommen für eine "grüne Revolution". Josefine, die in Kopenhagen den Klimawandel studiert. Hamdi, der in Kanada aufgewachsen ist und nun eine eigene Farm in der Heimat seiner Familie, Somaliland, aufbauen will. Anirudh, der seinen Job in Australien geschmissen hat und nach Indien zurückkehren möchte. Zayd, der Farmer und Yogalehrer mit jordanischen Wurzeln, der mit leuchtenden Augen von seiner Zeit in Costa Rica erzählt. Und Zavere, der aus den USA auswandern will, weil er sich dort nicht mehr sicher fühlt, und sich über meine Faszination von Komposttoiletten schlapplacht. Sobald wir alle aufeinandertreffen, fangen wir an zu fragen, zu argumentieren, zu diskutieren. Wir hören erst wieder auf, als die zwei Wochen um sind. Wir spielen hitzige Runden Permaculture Pictionary, Shishas werden herumgereicht, und beinahe jeden Tag läuft jemand ins nächstgelegene Dorf, um eine Simkarte oder etwas zum Naschen zu kaufen.



 "Morgen wird das Ergebnis der Wahl hier in der Region bekanntgegeben. Geht also besser nicht in den Ort. Je nachdem, wie es ausgeht, kann es sein, dass die Leute feiern, indem sie ihre Waffen abfeuern."
"Wenn ihr im ersten Stock des Hauses seid, vermeidet bitte, auf die Nachbargrundstücke zu schauen. Es könnte sonst sein, dass die Frauen, die dort leben, sich nicht mehr aus dem Haus trauen, weil sie unverschleiert sind."
"Passt auf, was ihr zu euch nehmt, wascht euch gründlich die Hände. Wir achten auf Hygiene, aber es gibt hier einfach Mikroben, an die euer Körper sich erst gewöhnen muss."
Ich bin, wie einige andere auch, auf ungewohntem Terrain. Ich kenne weder die Traditionen noch die Regeln. Ich lasse mich leiten von meiner Auffassung von Respekt, Freundlichkeit und dem einen oder anderen wohlmeinenden Hinweis.
Bei Sonnenaufgang dringt die Stimme des Muezzins durch die Wände meines Zeltes.
Der israelische Grenzposten mit den schwerbewaffneten Soldaten ist sechs Kilometer entfernt. Israel sagt niemand außer mir zu dem Land, dessen Geschichte untrennbar mit der deutschen verwoben ist. Palestine. Viele der hier lebenden Menschen wurden vertrieben oder sind geflohen. Die Kinder auf der Straße fragen, warum ich mich denn nicht ordentlich bedecken würde, als ich mit langärmeliger Bluse und langer Hose spazieren gehe. Sie laufen im Tross neben mir her. Zwei ältere teilen sich ein Fahrrad ohne Reifen. Wenn einer bremst, knirscht und staubt es. Der letzte Niederschlag fiel im März. Für die Skorpione fühlt sich die Temperatur wohl genau richtig an. Es ist Mitte September und es wird noch über einen Monat dauern, bis der nächste Regen kommt.
Nach der Wahl wird niemand von Munition getroffen. Die Nachbarn scheinen keinen Anstoß an unserer Anwesenheit zu nehmen. Und zwei Tage später, gegen zwei Uhr morgens, stehe ich halbbekleidet im Garten und mein gesamter Darminhalt läuft meine Oberschenkel hinunter, ohne dass ich auch nur einen Hauch von Kontrolle darüber hätte. Gleiches Spiel in der darauffolgenden Nacht. Und der Nacht danach. Jedes Mal versucht mein Geist, meinen Körper zu bezwingen. Jedes Mal ignoriert mein Körper die Tatsache, dass ich einen Willen habe. Ich schaffe es bloß, den Weg zum Klo stets ein wenig schneller anzutreten und irgendwann sogar im Dunkeln, diesem einen dornigen Zweig auszuweichen, der mir mit stoischer Regelmäßigkeit knapp unter dem rechten Auge ins Gesicht schnellt.
Ich bin nicht allein. Nach und nach wird einer nach dem anderen fahl im Gesicht. Wir teilen Tinkturen, kochen Salbeitee und löffeln Joghurt.




 Als wir am Wochenende einen Ausflug nach Wadi Rum und Petra machen, hat sich mein Innerstes wieder beruhigt. Zum Glück, denn auf Hummus, Rosenwasserpudding, Falafel und Gebäck mit Dattel-Zimt-Füllung will ich nicht länger verzichten.
Und ich will die Dünen und Felsformationen von Wadi Rum sehen, durch Petra flanieren, ein Gefühl für das Land außerhalb der Farm bekommen. Wir haben einen Bus gemietet, mit Fransen an der Decke und einem ununterbrochen rauchenden Fahrer. Alle reden gleichzeitig, Kekse werden durchgereicht. Irgendwann fordert die Monotonie der Straße ihren Tribut; die Sätze werden knapper, Köpfe sinken gegen Fenster oder auf Schultern. Dann die erste Militärkontrolle. "Passport. Where are you from?" "Germany." "Aha. Good football! Welcome to Jordan!"
Unser Klassenausflug wird ein Parforceritt durch die touristischen Ballungszentren des Landes. Wüstentour, Dünenklettern, Übernachten bei Beduinen. Wer keine Lust hat auf Zeltdach und Bett, schläft draußen unter den Sternbildern im Schlafsack, und am Morgen besteigen ein paar von uns noch im Dunkeln und in Decken gehüllt die nächstgelegene Anhöhe, um den Sonnenaufgang zu beobachten.






 Weiter geht es nach Petra, der gigantischen Felsenstadt. Gleichermaßen gigantisch ist der Eintrittspreis von umgerechnet etwas mehr als 50 Euro, der leider keinen Touristen davon entbindet, alle paar Meter ein Angebot auszuschlagen. Postkarten, Nippes made in China, Eselritt, Kamelritt, Pferderitt - was geritten werden kann, wird feilgeboten, egal wie klapprig es ist. Und so entwickelt sich das Weltwunder zu einer Serie von "No, thank you" und einer Ansammlung frustrierter Anbieter und widerständiger Konsumenten. Als sich an der Schatzkammer das Angebot eines etwa 60-jährigen Pferdekutschenbetreibers, ein Foto von mir zu machen, langsam in ein aufdringliches Fragen nach meiner Telefonnummer, nach einem gemeinsamen Drink, nach meiner Übernachtung wandelt, schüttele ich den Kopf und lasse ihn stehen. Als er wenige Minuten später samt seiner Kutsche neben mir auftaucht und ruft, ich könne bei ihm übernachten, schreie ich "No!", ohne "Thank you". Auf sein "I like you, you're hot!", für das ich wohl auch noch in Dankbarkeit erröten soll, fällt mir nichts weiter ein als "Go away!", und ein paar Sekunden lang wünsche ich mir einen Tschador oder das Talent erhabener Schlagfertigkeit, in nicht zu spezifizierender Reihenfolge. Wütend und verschwitzt erreiche ich nach einer halben Stunde Marsch in der sengenden Hitze wieder den Eingangsbereich dieses eines weiteren erfolgreich vermarkteten Must-sees, dessen touristischer Imperativ einhergeht mit einem erschreckend unbalancierten Machtgefüge zwischen denjenigen, die genügend Geld haben, um hierher zu kommen, und denjenigen, deren Überleben ganz unbedingt an die Willigkeit der Anderen geknüpft ist, Geld für etwas auszugeben, das sie nicht brauchen. Eine Konstellation, die, auf die Spitze getrieben, unweigerlich in Frustration ausarten muss, in schwindendem Respekt für das Gegenüber. Fazit: Es ist wie das Abziehbild unseres Systems in einer überhitzten Schneekugel.  Und: Idioten gibt es überall.






Eine Woche später schleiche ich mit vier Mitschülern auffallend unauffällig durch die Lobby eines Luxushotels. Das Ziel: Unsere Körper den Gesetzen der Schwerkraft zu entheben. Das war das Einzige, das ich ganz unbedingt und ohne Kompromiss in diesen zwei Wochen erleben wollte. Zehn Minuten darauf schwebe ich im Toten Meer, ohne 25 Dollar Eintritt entrichtet zu haben. Unser jordanischer Freund hat einfach behauptet, wir hätten ein Zimmer in dem spiegelglänzenden Palast mit den gedimmten Lichtern und dem privatisierten Zutritt zu einem natürlichen Gewässer.


Salzig wie fünf gepökelte Rinderhälften, nur euphorischer, nehmen wir eine Stunde danach unter dem Applaus unserer Klassenkameraden die Kurszertifikate entgegen. Kurz darauf brechen die ersten auf, zum Flughafen, nach Amman, zurück in ihr Leben, ihre Ideen und Pläne. Ich habe so viel gelernt, gehört und gelacht in diesen zwei Wochen, innerhalb und außerhalb des Klassenzimmers, dass mein Kopf summt. Wir haben gemeinsam auf die Welt geschaut, wie wir sie kannten, und sie durch eine neue Perspektive in ein anderes Licht gerückt. Ein Licht, in dem Entrüstung und Hoffnung manchmal ganz plötzlich und wie von Sinnen anfangen zu knutschen.





Wir übrigen schlendern für ein letztes Falafelsandwich ins Dorf. Auf dem Heimweg halten uns zwei Polizisten an, die wissen wollen, wer wir seien, und uns ermahnen, schnurstracks zurück nach Hause zu gehen und auf unsere Sicherheit zu achten. Eine letzte kleine Erinnerung daran, dass der Alltag hier anders gestrickt ist.
Um Mitternacht nehmen Nacim und ich ein Taxi zum Flughafen. Um vier Uhr morgens verabschieden wir uns. Wir umarmen einander nicht, schütteln uns nicht die Hände. Er legt die Hand aufs Herz und sagt: "It was an honour."
It was.

Eure Anja

Sonntag, 27. November 2016

Wie aus Indien plötzlich Deutschland wurde

Das Flugzeug hat kaum mit den Rädern die Landebahn berührt, schon stehen mindestens zehn Leute auf. Natürlich sind die Anschnallzeichen noch nicht erloschen, der Flieger hat noch ziemlich Fahrt drauf und nach einer kurzen Durchsage, die nichts bringt, eilen gleich mehrere aufgeregte Stewardessen zu den immer zahlreicher aufstehenden Menschen, um sie wieder zum Hinsetzen zu bewegen. Auch das hilft nicht. Mehr und mehr Leute erheben sich, die Stimmen des Flugpersonals werden lauter. Anja und ich schauen uns an. Sowas haben wir noch nicht erlebt.

Es ist mitten in der Nacht, wir sind von Irkutsk aus seit ca. zwei Tagen per Nachtflug unterwegs, mit einem 17-stündigen Aufenthalt auf dem Pekinger Flughafen. Wir sind übernächtigt und erschöpft, aber gleichzeitig voller vibrierender Erwartung. Über Indien, das vermutlich exotischste Land unserer Reise, haben wir viel gehört und gelesen, auch viele Warnungen, v.a. für allein reisende Frauen. Die immer noch im Gang des Flugzeugs stehenden Inder sind wohl ein kleiner Vorgeschmack darauf, dass hier einiges anders läuft, als wir es kennen ...

Nachdem wir unser Gepäck abgeholt haben, gehen wir zielstrebig zum Prepaid-Taxi-Stand. Denn diversen Reisetipps zufolge soll man sein Taxi besser bereits am Flughafen bezahlen, sonst komme es am Ende zu unvermeidlichen Diskussionen über den Fahrpreis. Den Zettel mit der Adresse unseres Hotels in Neu Delhi drücke ich dem Taxifahrer in die Hand und schon geht es los. Wir haben die Lage scheinbar im Griff. Bisher lief alles reibungsloser als auf Bali.

Zwanzig Minuten später sieht die Sache völlig anders aus. Unser Taxifahrer fragt mich zum wiederholten Mal, wo denn bitte das Hotel liege, er könne es nicht finden. Ich kann es ihm natürlich auch nicht sagen. Meinen Vorschlag, doch die Telefonnummer des Hotels auszuprobieren und nach der Wegbeschreibung zu fragen, schlägt er mehrfach aus, fragt lieber Passanten auf der Straße, die jedoch alle ziemlich ratlos wirken. 

Die Innenstadt von Delhi ist auf den ersten Blick so, wie alle erzählt haben. Am Straßenrand und auf den Bürgersteigen schlafen Männer und Kinder, Müll liegt herum. Wir schauen aus den Fenstern des Taxis und hoffen, dass dies nicht das Viertel ist, in dem unser Hotel liegt. Alle haben uns geraten, so schnell wie möglich wieder aus der Stadt abzureisen und so haben wir nur eine Übernachtung gebucht, wollen am nächsten Tag mit dem Zug weiter, nach Norden.

Jetzt hält der Taxifahrer an und deutet auf ein Schild, auf dem "Tourist Information" steht. Obwohl es mittlerweile fast drei Uhr nachts ist, sind die Fenster noch erleuchtet. Anja soll aussteigen, um nach dem Weg zu fragen. Wären wir nicht so müde, würden wir sicher protestieren. Doch so steigt Anja aus, nach kurzer Zeit auch unser Fahrer. Ich werde wenig später von Anja und zwei Mitarbeitern der "Tourist Information" mit den Worten "Welcome to India! Come in and have a Chai!" abgeholt. Seufzend steige ist aus, vielleicht können uns die Männer ja wirklich den Weg zum Hotel erklären?

Eine Stunde später sitzen wir immer noch in der "Tourist Information". Die drei Mitarbeiter reden abwechselnd oder gleichzeitig auf uns ein: Unser Hotel sei nicht sicher, der Stadtteil ebenfalls nicht, sie könnten uns nicht erlauben, dort hinzufahren. Stattdessen würden sie uns - natürlich völlig kostenfrei - ein neues, besseres Hotel buchen. Nein, nein, keine Sorge, auch das bereits gebuchte könnten sie kostenfrei für uns stornieren, alles kein Problem. Wo wir denn als nächstes hinwollten? Oh je, in den Norden?! Aber da gab es doch gerade so eine schreckliche Flutkatastrophe mit Tausenden von Toten. Auch davon sei dringend abzuraten. Schaut hier, im Internet, diese Bilder von der Katastrophe ...

Wären wir nicht so übermüdet und überfahren, hätten wir sicher an dieser Stelle schon längst deutlicher protestiert. Aber wer sagt denn, dass unser Hotel ein gutes ist? Der Stadtteil okay? Ich bin verunsichert und weiß nicht mehr, was ich glauben soll. Wir hatten Geschichten im Internet gelesen, dass Taxifahrer gerne mal erzählen, das Hotel, in das man wolle, sei abgebrannt, oder den Stadtteil, in dem es liegt, gebe es gar nicht. Nur um dann die Touristen in ein Hotel zu fahren, in dem der Fahrer  eine Provision bekommt. Auf solche irrwitzigen Szenarien waren wir vorbereitet - jedoch nicht auf  das, in dem wir uns jetzt befinden.

Nach langer Diskussion geben wir schließlich klein bei und lassen uns in das angeblich so viel bessere Hotel fahren. Dort gibt es natürlich kein W-Lan. Das Zimmer stinkt nach Benzin, die Laken sind schmutzig. Zwar würden wir nichts lieber tun, als uns ins Bett zu  legen und endlich zu  schlafen. Doch jetzt holt uns die Angst ein: Keiner weiß, wo wir sind. Nicht mal wir selber. Da wir kein W-Lan haben, kann ich auch niemandem Bescheid geben, nichts Neues buchen. Die Männer der angeblichen "Tourist Information"  könnten theoretisch alles mit uns machen. Wie soll es von hier aus weitergehen, wenn man anscheinend nicht in den Norden reisen kann, wir offenbar niemandem vertrauen können, Taxifahrer einen nicht zu der Stelle bringen, zu der man will?

Wir liegen angezogen auf dem Bett, schauen uns an und wissen nicht weiter. Schließlich entscheiden wir, dass wir wieder aufstehen - es ist mittlerweile halb sieben Uhr morgens - und uns ein Taxi an den Flughafen nehmen. Vielleicht bekommen wir dort W-Lan, können dort ein anderes Hotel, eine neue Route buchen?

Gesagt, getan. Der Mann an der Rezeption winkt uns einen Taxifahrer heran - der uns schnurstracks zurück zur "Tourist Information" bringt. Doch diesmal sind wir energischer, steigen trotz wiederholter Aufforderungen der Mitarbeiter nicht aus, sondern bestehen darauf, zum Flughafen gebracht zu werden. Schließlich ist ihnen klar, dass sie mit uns kein Geschäft machen werden. Der Fahrer bringt uns zum Flughafen.

Dort angekommen die nächste Überraschung: Wir können nicht ins Gebäude, da wir kein Flugticket haben. Überredungsveruche bei den schwer bewaffneten Wachen an den Eingängen führen zu nichts. Schließlich dürfen wir doch in ein kleines Nebengebäude, in dem mehrere Fluggestellschaften ihre Verkaufsbuden haben. In die Wartehalle, in die wir uns setzen wollten, um uns ein wenig zu sortieren, dürfen wir allerdings nicht (ohne Ticket), W-Lan gibt es nur für Leute mit indischer Sim-Karte. 

Das ist der Moment, an dem ich nicht mehr kann. Ich fange an zu weinen und will nur noch heim. Anja versucht mich zu trösten, versucht, nochmal mit einigen Leuten zu reden und über diese ein neues Hotel zu organisieren - doch ich sehe nur den Schalter mit den Tickets gen Heimat und kann nicht mehr aufhören zu weinen. Kann mich nicht zusammenreißen. Will nicht hier bleiben.

Denn wem kann man vertrauen? Woher weiß man, dass man auch bei dem Hotel ankommt, das man gebucht hat? Wie sollen wir weiter planen ohne Internet? Und wo würden wir überhaupt hinfahren?  Die Lage scheint mir aussichtslos, da keine unseren sonstigen Reisestratiegien hier zu funktionieren scheint.  Nach über sechs Monaten auf Reisen bringt mich diese Situation komplett aus der Fassung. Sicher hat vieles damit zu tun, dass ich völlig übermüdet bin. Vielleicht auch generell reisemüde, denn dass ich kein Nomade bin, hatte ich ja bereits in einem anderen Artikel erwähnt...  

Anja wiederum fängt an zu weinen, als sie merkt, dass ich tatsächlich nicht mehr in Indien bleiben will. Für sie ist die Enttäuschung zu groß, hier scheinbar schon die ganze Reise "abzubrechen". Meine Beteuerungen, wir könnten dann von Deutschland aus jederzeit weitermachen, reichen in dem Moment  nicht aus.

Nach längerem Hin und Her buchen wir tatsächlich zwei Tickets nach Deutschland. Angeblich gibt es nur noch First Class, doch das spielt nun keine Rolle mehr. Ich kann  Anja überreden, mit mir zu kommen. Denn allein in Indien lasse ich sie auf gar keinen Fall. Kurz darauf sitzen wir in unfassbar bequemen Sesseln im Flieger, werden von A bis Z verhätschelt - und können es nicht wirklich genießen. Vor allem Anja nicht, deren Enttäuschung gerade grenzenlos ist. Ich selbst habe ein riesig schlechtes Gewissen, da ich für den - wenn auch nur vorübergehenden - "Abbruch" unserer Reise verantwortlich bin. 

In Frankfurt werden wir von lieben Freunden in Empfang genommen, die uns spontan Unterkunft gewähren und sich unsere Indien-Story brühwarm  anhören. Wie wenig später auch unsere Eltern. 

In den kommenden drei Wochen tingeln wir quer durch Deutschland, besuchen Freunde und Familie und ich bin einfach nur froh und erleichtert. Für mich war die Entscheidung, an dieser Stelle den Aufenhalt in Indien abzubrechen, die richtige. Vielleicht wären geübtere Reisende damit gelassener umgegangen, sicher hätte es Möglichkeiten gegeben, aber für mich war es in jenem Moment am Flughafen von Delhi einfach nicht mehr möglich weiterzumachen. Vermutlich werde ich Indien zu einem anderen Zeitpunkt unter anderen Voraussetzungen nochmal eine Chance geben. Doch bis dahin warten noch andere Abenteuer auf uns.


Mit liebem Gruß, 

eure Iris

                                                        

                                      Deutschland im Spätsommer -  auch nicht zu verachten ...

                                                       







Dienstag, 25. Oktober 2016

Sommerfrische in Sibirien

Eine Gruppe Senioren tanzt in bunt gestreifter, beigefarbener oder blaugrauer Alltagskleidung zu russischer Volksmusik um einen Ghettoblaster. Ein Kleinkind reitet auf einem Rentier, ein zweites versucht sein Glück auf einem Kamel, dessen Höcker bedenklich zur Seite geneigt sind. Auf den Treppenstufen vor uns sitzt ein junger Mann mit einem riesigen, weißen Plüschbären und einem wuchtigen Strauß Blumen, während hinter uns ein Dreijähriger im rosa T-Shirt erst die Tanzbewegungen der alten Herrschaften imitiert und gleich darauf freudestrahlend Tauben jagt. An einem mobilen Kiosk verkauft eine Frau Cola und Limonade und Eis. Über allem steht Zar Alexander III. 







So habe ich mir Irkutsk nicht vorgestellt.
Sondern? Grau wie der Mantel des blickscheuen Mannes vom KGB? In sich gekehrt wie ein schmollender Teenager, der den Tanten schmallippig Guten Tag sagt, damit die Eltern Ruhe geben? Ich weiß es nicht und lasse meine Vorurteile weiterziehen. Schließlich sind wir überhaupt hier, weil ich finde, dass Politik nicht zwingend dem beherrschten Volk aus der Seele spricht. Sonst könnte man ja kaum noch wohin reisen.
Wir beobachten flanierende Familien, selbstvergessene Liebespaare, Selfies knipsende Teenager und einen Junggesellinnenabschied - drei Mädchen mit Krönchen und Schleier (wie soll man denn da bitte die Braut erkennen?) -, die sich nach einer Weile unter die Rentner mischen und mit ihnen im Kreis tanzen. Die Sonne beißt sich im Asphalt fest, es müssen knapp dreißig Grad sein. Eigentlich wollten wir nur spazieren gehen. Das Treiben auf dem Platz hält uns zwei Stunden lang fest. 


Tags zuvor sah das noch ganz anders aus. Nach zwei Nächten in der Transsib, davon etwa zehn Stunden an der Grenze harrend, nach Kartenspielen, Lesen, Geschichtenerzählen und aus-dem-Fenster-Gucken, nach Bananen, Schokokeksen und transportfreundlichen Trockensuppen, gab sich Irkutsk still und desinteressiert. Um halb acht Uhr morgens verabschiedeten uns die provodnitsas unseres Waggons mit herber Freundlichkeit in den strömenden Regen. 




Unsicher, in welcher Richtung unsere erste Unterkunft lag, froh, von der Dame am Fahrkartenschalter mit Hängen, Würgen, viel Lächeln und Gesten zwei Tickets für weniger als einen Euro erstanden zu haben, bestiegen wir in frühmorgendlicher Risikofreude einfach die nächstbeste Bahn. Und stellten fest, dass die Tickets an Bord verkauft werden, von einer Frau, die mit einem portablen Drucker von allen Zusteigenden das Fahrgeld kassiert. Ich zeigte ihr unsere Tickets, sie sprach viele russische Sätze, deren Essenz ich nicht wiedergeben könnte, ohne zu raten, und ließ uns mitfahren, obwohl wir mit Sicherheit die  falschen Fahrkarten hatten. Sie deutete auf die Haltestelle, an der wir aussteigen sollten, und half uns damit über die erste Hürde des Ankommens.
Wir deckten uns im Supermarkt mit den ersten Frühstücksnotwendigkeiten ein. Der Lebensmittelimport aus Deutschland scheint nach wie vor gut zu funktionieren.
Und als der Himmel sich ausgeregnet hatte, unternahmen wir unseren ersten Ausflug ins 130 Kvartal, einer Rekonstruktion der traditionellen, sibirischen  Holzhäuser, mit Restaurants, Geschäften und Softeisbuden, zwischen denen hauptsächlich russische Touristen flanieren und posieren. Ich nenne diesen mir nicht nachvollziehbaren Teil irkutsk'scher Stadtplanung Plastiksibirien. Die echten Holzhäuser, die man in der ganzen Stadt zwischen Plattenbauten und Prä-Sowjetarchitektur tapfer, aber kaum aufrecht stehen sieht, verfallen in der Zwischenzeit. 




 Sie werden über kurz oder lang zeitgemäßen Investionsprojekten weichen. Shoppingsibirien wird übrig bleiben - drumherum die Straßenschilder mit den Namen aller Heroen einer fast verblichenen und wahlweise belächelten oder verdammten Ideologie, die ich aus meiner Kindheit, aus Schulbüchern und Geschichten kenne. Friedrichs, Engels, Lenin, Liebknecht, und die Straße mit den schicksten Läden ist die ulitsa Karla Marxa. Ob er sich das so vorgestellt hat? 





Nun sind wir also mittendrin in diesem Land mit der schweren Seele, der argwöhnisch beobachteten Politik und dem hochprozentigen Alkohol. In einer Region, die sich über ihre Exilanten definiert, über ihre Bodenschätze, ihre Distanz zu Moskau und ihren bitterkalten Winter, von dem man in Europa glaubt, er dauere mindestens ein ganzes Jahr. Falls die Menschen hier neugierig sind, so sind sie doch mindestens gleichermaßen zurückhaltend. Sie begegnen uns mit ernsten Mienen, aber nicht unfreundlich. Aufmerksam bleiben sie stehen, wenn eine von uns ein Foto macht, um nicht durchs Bild zu laufen. Sie sind ordentlicher gekleidet als wir, die wir alle paar Tage ein knittriges Shirt aus dem Rucksack ziehen, und penibler frisiert als ich, die ich mich nach acht Jahren der Kurzhaarvariationen erst langsam wieder ans Kämmen gewöhne. 


Während der drei Tage in der Stadt, die knapp 600.000 Einwohner zählt, folgen wir unserem bevorzugten Muster: Reden, laufen, Alltag gucken. Und so diskutieren wir nach dem Abendessen mit unserer Zimmervermieterin übers Schreiben, über asiatische Popkulturfantasien und schließlich über Moskau und seine Machtinhaber. Auch wenn dies manchmal mehr Aushalten als Preisgeben und Gegenhalten bedeutet, ist es doch interessant zuzuhören und die Implikationen des Ausdrucks Propaganda im Kopf beidseitig zu beleuchten. 

Manchmal lassen wir uns doch vom Reiseführer an die Hand nehmen: Im (Museums-)Haus der Familie Trubetskoy folgen wir den Dekabristen und ihren Frauen aus wohlsituiertem Leben in die Einsamkeit Sibiriens. Im Sowjet-Popkitsch-Restaurant 'Rassolnik', mit Häkeldeckchen, Kassetten und alten Brillengestellen an den Wänden und Soljanka auf der Speisekarte, probieren wir zum ersten Mal geräucherten Omul, einen Fisch, den es nur im Baikalsee gibt. Wir kaufen Softeis mit Karamellsoße und beim Spaziergang an der Angara freuen wir uns (und staunen ein bisschen), zwei junge Frauen Hand in Hand gehen zu sehen. Das hat der Reiseführer verschwiegen. Ich traue ihm nur begrenzt.

Schließlich fahren wir mit dem Taxi aus der Stadt heraus und in den Birkenwald hinein zu unserer zweiten Unterkunft, einer ausgebauten Datscha mit reifen Himbeeren und raupendurchfrästem Blumenkohl im Gemüsegarten, der den Gedanken an einen möglichen Mangel in den Geschäften, so wie es ihn früher gab, ungerührt an sich abprallen lässt. Die Banja (= Sauna) steht nebenan und  nur wenige Schritte den Feldweg hinunter ist eine Badestelle im Fluss.  






Hier wollen wir eine Woche bleiben. Lesen, schreiben, spazieren, vielleicht Pilze sammeln, uns von Aufgüssen einheizen lassen und die Eindrücke verarbeiten, die sich in unseren Hirnen und Herzen stapeln und uns manchmal lange schlafen lassen. Die Hausherrin, Lena, umarmt uns, kaum dass wir ausgestiegen sind.
Als wir kurz darauf unsere Zehen probehalber in den Fluss tunken, kriecht ein Gripsholm-Gefühl meine Waden hoch. Wir kriegen frisch aufgebrühten Tee und schwarze Johannisbeeren, dazu Kekse, die wir zuhause Lebkuchen nennen würden.

Am nächsten Nachmittag weicht das andächtige Grillenkonzert im Garten einer Party. Der Platz um den Tisch voller Essen ist auf einmal so dicht bevölkert wie ein Dostojewski-Roman. Frauen und Männer, die Igor, Natascha, Sergej, Michail und Evgenija heißen, trinken Kwas (= Brottrunk) und schenken uns Wein von der Krim und selbstgebrannten Schnaps ein, der wie Karamell aussieht und nach Schokolade schmeckt. Es gibt Tomatenscheiben mit einer dicken Paste aus geriebenem Käse und Mayonnaise - neben Sauerrahm einer der essentiellen Träger russischer Esskultur -, Brote mit Räucherfisch, Kohl und Zwiebeln, Schaschlik und gegrilltes Hühnchen, frische und gesalzene Gurken. 


Nicht von der Verpackung täuschen lassen: Selbst gebrannt.



Dazu hören wir Geschichten und Witze, die wir nicht verstehen können, aber wir lachen trotzdem, denn Lachen ist auch ohne Vokabelkenntnis ansteckend. Wir versuchen, das Essen mit einem Zeltdach gegen den Regen abzuschirmen, und applaudieren den Liedern, die angestimmt werden, als es schon dunkel ist und sich alle ein wenig dichter ans Feuer stellen. Ich weiß gar nichts aus der Heimat beizutragen, schwanke unentschlossen zwischen Heino und Udo Jürgens, und frage mich, ob das daran liegt, dass bei uns eher Bob Dylan und John Lennon geklampft werden, wenn das Lagerfeuer die Schienbeine wärmt, die Stimmen leiser und die Gedanken lauter werden. Weil traditionelles Liedgut eher von Leuten gepflegt wird, deren Motivation darin besteht, möglichst hohe Mauern gegen alles Fremde zu errichten und niemand sich diesen Anschein geben will? Lena, die mit einem Deutschen verheiratet war, springt ein und singt "Von den blauen Bergen kommen wir". 

Auch wenn wir uns nicht mit allen unterhalten können, so gibt es zumindest etwas, das klar ist. Wodka trinkt man nicht nach dem, sondern zum Essen, und einer reicht niemals aus. Ein ordentlicher Trinkspruch ist essentiell, der dritte Wodka in unserer Datscha gilt immer der Liebe und niemals wird das Heben des Glases von 'Nastrovje' begleitet. 
Beim Abschied auf der Haustreppe sagt Igor auf deutsch: "Bitte schließen Sie das Kippfenster", einfach so, umarmt mich und lacht.
Alles in allem scheint es, dass wir wieder einmal das Glück haben, eine Gastfreundschaft erleben zu dürfen, wie sie einem ein seliges Lächeln vor dem Einschlafen beschert. 




Drei Tage später liegt Iris mit einer Erkältung flach und ich stehe im Wald. Um mich herum drei einheimische Frauen. Jede von uns hat ein Messer in der Hand.
Und einen Eimer. Zusammen mit Genija und ihren Freundinnen sammele ich Pilze. Tags zuvor hatte sie angerufen und mich einfach eingeladen. 
Da schon eifrige Sammler vor uns aufgestanden zu sein scheinen, ist die Ausbeute mager. Und so geben wir auf und sitzen schon kurze Zeit später in der elterlichen Datscha einer Freundin. Es gibt Buletten, Salate, Garnelen und Rotwein von Mamas Geburtstag am Abend zuvor. Mama macht mir einen Teller zurecht und da ich sowieso nicht zum Ausdruck bringen kann, dass Fleisch nicht mein Gemüse ist, nehme ich auch die zweite Bulette mit einem schüchternen "Spassiba" entgegen.
Gesprochen wird Russisch und vielleicht mal ein einzelnes englisches Wort, wenn eine sich traut. Sie führen mich durch den Garten, vorbei am Reichtum der in der Region allgegenwärtigen Gemüsebeete, an Mamas Gartenzwergsammlung und an den Hühnern, bewacht von Hahn Pjotr. Xenia gackert zur Erläuterung. 


Als schließlich Genija die Idee hat, mit Hilfe einer Übersetzungs-App 'Russisch-Englisch' eine Schnittmenge zwischen unseren Sprachen herzustellen, verschieben sich die eben noch bedrückend engen Grenzen meiner verbalen Welt schlagartig in nicht mehr greifbare Ferne. Wir reichen einander die Smartphones kreuz und quer über den Tisch, trinken Wein, runzeln die Stirn, wenn die App absurden Kauderwelsch aus ihrer Wortbausteinkiste holt, machen Witze über Sanktionen und fragen uns gegenseitig, wie es so ist, wo wir leben, und was die Menschen hier über uns dort so denken. Sie wollen wissen, was ich arbeite, wie lange wir schon reisen, welche russischen Autoren ich gelesen habe. Muttersprachliche Diskussionen, Kichern, lautstark untermalte Gesten und liebevolle Handgreiflichkeiten werden unterbrochen von konzentriertem Tippen. Es wird stiller, als wir über die Liebe reden, die hier, wenn sie gleichgeschlechtlich ist, versteckt werden muss, weil 'homosexuelle Propaganda' illegal ist. Vermutlich wissen weder Himmel noch Kreml, was Propaganda in diesem Fall bedeuten soll. Fast all die Frauen, mit denen ich hier sitze, lieben Frauen und schweigen dazu in der Öffentlichkeit. Ihre Eltern wissen es vermutlich, aber geredet wird nicht darüber. Ihren Kollegen gegenüber halten sie ihr Leben geheim, zumindest ihre Liebe, aber was ist das Leben schon ohne die Liebe?, "man weiß ja nie, wie die Leute reagieren, vielleicht mit Gewalt." Und: "In der Öffentlichkeit Händchen halten ist okay. Küssen geht auf keinen Fall."
Sie organisieren ihr Leben in einer forcierten Unsichtbarkeit. Sie wollen Kinder bekommen und eine kleine, heimliche Familie sein, von der draußen niemand wissen darf, die Verwandten nicht und auch nicht die Nachbarn. Alles, was sie wollen, ist das, was Andere auch haben, und wenn sie es nur heimlich bekommen, dann nehmen sie es sich eben heimlich.
Doch innerhalb dieser Mauern feiern sie, streiten und blödeln, denn wie überall, wo das Abweichen von der Norm geahndet wird, geht das Leben weiter, verborgener, vielleicht bewusster und fröhlicher, manchmal lauter, manchmal trauriger, aber immer mit noch einem Toast.
Am Ende sagen sie: "Du brauchst dir keine Gedanken zu machen, wenn du wieder nach Russland kommst, du hast jetzt Freunde hier." Mama gibt mir zum Abschied einen Kuss auf die Wange. 




Am Abend steige ich die Treppe unseres Hauses hinauf, betrunken und beschenkt mit Gurken, Pilzen, Kartoffeln und verschwommenen Gruppenfotos vom überraschendsten Nachmittag, an den ich mich erinnern kann. Lena wartet mit dem Essen. Für Iris macht sie Tee aus frischem Thymian, gegen den Husten, und mich verschont sie mit einem weiteren Glas Wodka.
Die Tage fliegen in unserem sibirischen Gartenversteck. Lena gibt uns Tipps für unsere Weiterreise, erzählt Witze über Breschnev, versucht sich an Iris mit einer Schröpfkur, macht Pfannkuchen zum Frühstück und ermahnt uns, das Fenster nicht zu lange offen zu lassen. Wir tauschen Buch-, Film und Rezeptempfehlungen, putzen zusammen Pilze und massieren Basilikum mit Salz, reden dabei über das Leben bis hierher, ich hacke Holz und heize die Banja, wir trinken auf die Gesundheit, auf den Frieden, auf die Liebe, auf das Miteinander. Sie sagt, Russland sei das Land der Improvisation, und wir trinken auf die Erkenntnis.
Wir verlängern unsere sorglose Gemütlichkeit um einen Tag. Und einen weiteren. Und noch einen.


Doch wie es immer so kommt, klopft leise die Sehnsucht an die Holztüren. Hinter den Wäldern wartet Gevatter Baikal auf mich, der größte Süßwassersee der Welt, mit Hunderten von endemischen Spezies und einer meterdicken Eisschicht im Winter. Ich wollte ihn sehen, seit ich ihn im Geografieunterricht auf der topografischen Landkarte zeigen musste. So lang, so breit, so tief, dass die Viertklässlerin in mir große Augen macht und die 36-Jährige sich fragt, was wohl passieren wird, wenn irgendwann den Chinesen, den Europäern, den Amerikanern das Wasser ausgeht. Dieses endlos scheinende Becken enthält 80% des Süßwassers auf unserem Planeten, wenn man das ewige Eis nicht mitrechnet. 



 

Und so steht eines Morgens ein Taxi vor dem Gartentor, das uns mit rissiger Windschutzscheibe und russischen Liedern, die immer klingen wie melancholische Chansons der siebziger Jahre, aus dem Birkenwald heraus fährt und in die Stadt hinein. Zum Busbahnhof, wo unsere marschrutka steht, ein Kleinbus mit Fransenvorhängen und Gepäck auf dem Dach. Unser Fahrer, der kurze, bellende Ansagen macht, unterbricht sein Telefongespräch selbst dann nicht, als die Schlaglochdichte erheblich zunimmt. 


Fünfeinhalb Stunden später spuckt sie uns, unsere von Lena eingepackte Johannisbeermarmelade, den gebratenen Blumenkohl und unsere hauptsächlich russischen Mitreisenden auf der Insel Olchon wieder aus. Olchon liegt in der Mitte des Sees, eine zwanzigminütige, kostenlose Überfahrt vom Festland entfernt. Der Reiseführer empfiehlt, die staubigen Straßen des Dorfes Khuzir, dem größten Ort der Insel, hinter sich zu lassen, um möglichst ungestört die Natur genießen zu können. Diesen Tipp schlagen wir in den Wind, schließlich wollen wir Alltag gucken, und richten uns ein in unserem hölzernen Zimmer mit zwei Einzelbetten, aber nur einem Stuhl. Die Klogrube, in der sich die Hinterlassenschaften aller Besuchernationen ganz ohne Berührungsängste vermengen, ist einen Gang über den Hof entfernt, ebenso die holzverkleidete Dusche. Beide müssen im Winter ein Höchstmaß an Selbstüberwindung erfordern. Wer will, bekommt Abendessen mit Salat zur Vorspeise und Kuchen zum Nachtisch für 350 Rubel (= 5 €) pro Person. 







Jeden Tag spazieren wir in die Umgebung. Zum Strand, fast vor der Haustür. Zu den Felsen, denen Schamanen weltweit besondere Energien zusprechen. Immer wieder durchs Dorf. Vorbei an mobilen Banjas, Schaschlikgrillstellen, versprengtem Campingmüll, Omulbuden und Quadvermietungen. Ich teste die Sprachtoleranz geduldiger oder stoischer Pfannkuchenbraterinnen und Fischverkäuferinnen, indem ich mit Mut zu unhaltbar großen Lücken in der Landessprache ordere. Um uns in der Wärme des Nachmittags zu erfrischen, versenken wir unsere Körper bis zu den Haarspitzen im frischen Wasser des Baikal. Das gebe zusätzliche Lebenszeit, hat man uns versprochen.  



 
  


Will ich den Himmel, die Luft, die Berge, das Land des Baikal beschreiben, so ziehen sich die Grenzen meiner eigenen Sprache wieder zusammen. Blau, klar, grau, weich, doch statt zu sagen, wie blau, von welcher Klarheit, welcher erhabenen grüngrauen Indifferenz und milchigen Unwirklichkeit, schwelge ich wortlos. Sylvain Tesson, der ein halbes Jahr lang in einer Holzhütte am Ufer des Baikal gelebt hat, schreibt: "Wenn die Natur denkt, sind die Landschaften Ausdruck ihrer Gedanken." Ich weiß nicht genau, was die Natur denkt, aber ich stimme mit dem überein, was sie sagt. Und die Berge liegen da, als hätte die Endlichkeit nichts mit ihnen zu tun.
Am Ende unserer russischen Sehnsuchtsexkursion stehen wir auf Lenas Einladung hin wieder vor ihrem Gartentor. Es ist ein bisschen wie nach Hause kommen, um Auf Wiedersehen zu sagen. Doch Sibirien lässt uns nicht gehen ohne ein letztes Festmahl in Irkutsk im Kreise der Freundinnen, die den Wein von der Krim dem teureren französischen Tropfen vorziehen und uns hausgemachte Pirogi und Soljanka auftischen, ohne selbst etwas anzurühren. Nicht ohne uns noch einmal das Smartphone zu reichen und zu fragen, wie es uns hier gefallen habe. Sibirien sagt "I'll miss you", stellt uns eingelegte Pilze, Rote-Beete-Salat und Kuchen hin, schießt einen letzten Selfie, umarmt uns und winkt uns um kurz nach Mitternacht am Flughafen nach. Davor trinken wir aber noch einen. Auf die Liebe. 





Eure Anja
 


Mittwoch, 14. September 2016

Wir beide zusammen, der Himmel so weit*

Nähert euch dem Tier immer von links und frontal. Lasst euch nicht von Ästen aus dem Sattel wischen. Lasst euch nicht beißen. Lasst euch nicht treten. Überholt nicht unverhofft. Und was auch passiert: Fallt nicht runter.

((Wessen Idee war das hier nochmal?))

Wir lernen reiten. Nicht in der Halle, nicht im Kreis laufend, nicht an der langen Führleine, die ein aufmerksamer Reitlehrer in der Hand hält. Nicht in halbstündigen Einzelunterrichtsintervallen zweimal die Woche. Mein Helm ist eine graue Wollmütze mit pinkfarbenem Rand.
In der rechten Hand die Zügel, in der linken den Führstrick, inmitten eines Pulks von Pferden, die den Großteil des Jahres in der Wildnis leben, durchqueren wir die mongolische Steppe. Wir überwinden Bergpässe und Flussläufe. Wir traben über Wiesen voller Wildblumen. Wir lassen Sümpfe und Sanddünen hinter uns und wenn wir durch Wald reiten, versuchen wir die Pferde so zu lenken, dass sie unsere Kniescheiben nicht am nächsten Baumstamm zertrümmern. 






Lange vor dem Beginn unserer Reise haben wir diesen Pferdetrek durchs Hinterland im Nordwesten der Mongolei gebucht - als Herausforderung, als Abenteuer, als Verwirklichung eines Kleinmädchentraums, den keine von uns je hatte. 
Nach all den Autos, die uns dieses Jahr befördert haben, habe ich nun nur eine Pferdestärke unterm Hintern und ein bisschen Angst, das Gas- mit dem Bremspedal zu verwechseln.
Ein einziges Mal habe ich bisher auf einem Pferd gesessen, eine Stunde lang. Jetzt versuche ich mich an all das zu erinnern, was mir meine wunderbare Reitlehrerin damals sagte. 




Wenige Tage zuvor sind wir zum Abendessen zusammen gekommen, in Ulaanbaatar. Eine hoffnungsfrohe, stille Truppe saß in einem chinesischen Lokal bei gedämpften Gurken, knusprig gebratener Aubergine, Pfannenreis, Hühnchen und Tofu. Das gesamte Spektrum von Reiterfahrung, wenn man professionelles Springreiten ausklammert. Da sind Rachael und Mirja, die seit ihrer Kindheit reiten und am liebsten vornweg galoppieren. Peter, Kylie und Monica, die als Erwachsene Reitstunden genommen haben und den Galopp als Fortbewegungsform unterschiedlich enthusiastisch bewerten. Emily und ich warten mit je etwa einer Stunde Pferdeexpertise auf. Pat und Larry, mit über sechzig die ältesten Reiter der Gruppe, hatten gleich zwei Treks in Folge gebucht, "wenn man schonmal da ist". Larry war beim ersten unglücklich vom Pferd gefallen, hatte neun Stunden im Koma gelegen und darf nun nur im Versorgungsjeep mitfahren, obwohl er viel lieber geritten wäre. Seine Frau Pat sitzt dafür jeden Tag auf dem Pferd. Und dann ist da noch Iris, die das Yak im Sack gekauft und sich angemeldet hat, ohne jemals zuvor ihre Sitzhöcker in einen Sattel gepresst zu haben. Jen wäre unsere Reiseleiterin, wenn dieses Wort in ihrer Gegenwart nicht wie filzende Wollmäuse in meinem Mund haften bleiben würde. Die Amerikanerin hat in Russland studiert, spricht Mongolisch, hat allein im Segelboot den Atlantik und die Karibik durchquert, reitet von Kind an. Haldrasch ist unser erster Dolmetscher. Er ist Kasache, spricht vier Sprachen, hackt Holz, spielt Karten, lächelt über unsere Gemüsecurries, reitet das Pferd, das nur "The Beast" genannt wird, und sagt, wo es langgeht. Seine Aura ist stolz und überzeugt. Er findet immer ein freundliches Wort. Unser zweiter Übersetzer heißt Saruul. 29 Jahre ist er alt, sanft und zu still für einen Dolmetscher. Mit dem Zauberwürfel ist er ein As und beim Schach fragt er: "Are you sure?", um mich darauf hinzuweisen, dass ich meine Figuren gerade stetig dem Abgrund entgegen schiebe. Er hat als Jugendlicher reiten gelernt, sehr spät, in einem Land, wo man mit vier oder fünf Jahren anfängt und das Reitturnier beim Nationalfest Naadam aus 30 Kilometern Galopp besteht. Als sein Pferd am ersten Tag nur wenige Kilometer vom Camp entfernt scheut und ihn abwirft, bekommt meine vorsichtige Zuversicht erste Schrammen.




Was die Logistik jenseits des Pferderückens angeht, haben wir ein Paket der Sorglosigkeit erworben. Bei aller Einfachheit bietet es uns doch größten Luxus. Alte, robuste Sowjetjeeps transportieren unser Gepäck, unsere Zelte, Lebensmittel und manchmal auch uns - zunächst eineinhalb Tage aus Ulaanbaatar hinaus, durch zwei Provinzen, anfangs auf Asphalt, später auf ausgewaschenen Feldwegpisten, vorbei an Schafherden, Kuhformationen und Yaktruppen, und irgendwann nur noch querfeldein. Danach weiß ich, weshalb hier dazu geraten wird, ein Auto stets mit Fahrer zu mieten. Schilder gibt es an der Straße, aber nicht in der Steppe. Woran unsere Fahrer sich orientieren, wenn wir unbekannte Strecken fahren, weiß ich nicht. Doch nie verirren wir uns hoffnungslos. Nach ein paar Kilometern taucht immer jemand auf, der uns weiterhilft. 



Vor dem Pferd kommt das Kamel. Nicht Gobi, sondern irgendwo hinter Ulaanbaatar.





Zwischendurch machen wir irgendwo im Nirgendwo ein Picknick mit Brot, Yakkäse, Sardinen in Tomatensauce, Wurst, eingelegten Gurken, Äpfeln, Apfelsinen, Keksen, Nüssen, Trockenobst und Schokocreme. Dieses Aufgebot wird uns etwa zweieinhalb Wochen lang in den meisten Mittagsstunden begleiten. Wie Heuschrecken werden wir darüber herfallen, nachdem wir abgestiegen sind, die schmerzenden Beine gestreckt und die Arme gedehnt haben. 





Vorab habe ich viele Tipps bekommen: Keine Nähte an den Innenseiten der Schenkel, bequeme Hosen, den Hintern immer schön geschmiert halten, um Druckstellen und Hautabrieb zu vermeiden. Überhaupt fragen immer alle nach meinem Hintern. Doch der stört sich nur in den ersten zwei Tagen an der ungewohnten Konstruktion meines Sattels. Als ich den Sattel wechsele, heilen die wunden Stellen innerhalb weniger Tage. 






Meine Satteltasche.



Nichts schlimmer als Lady Monkey Butt. Ich sorge vor.

Was mir jedoch niemand gesagt hat: Wie sehr meine Knie schmerzen würden. Noch nie in meinem Leben haben sie mir den Dienst versagt. Jetzt verlangt es mich beim Absteigen nach einem entlastenden Aufschrei oder einer Streichelmassage mit ätherischen Ölen. Eine Spielart dieser Vision ereilt mich in Form der Schraubzwingenhände unseres Wranglers Dondov. Das Wort "Ohrfeige" fegt durch meinen Kopf. Doch meine zu Hölzern versteiften Gelenke entspannen sich. 








Handyempfang.

Es tut gut, im Kreise unserer mongolischen Crew zu sein. Sie bringen Wissen und Erfahrungen mit, die kein Hörsaal dieser Welt bieten kann, machen darum aber kein Aufhebens. Abgesehen davon können sie des Reiters Ego fabelhaft wieder im Boden der Tatsachen verankern. Die meisten von uns brauchen Hilfe beim Auf- und Absteigen, welche wir zuverlässig bekommen - immer zusammen mit einem ruckartigen Ächzen oder "Ho-oop!", manchmal gefolgt von einem Lachen. Dies ist nicht zuträglich für das Selbstbild vom Und-morgen-dann-Naadam-Reitprofi, doch sobald ich im Sattel sitze, kehrt so etwas wie Selbstbewusstsein zurück. Solange, bis mein Pferd seinen länglichen Schädel mit der Bürstenmähne durchsetzen will und der oberste Grundsatz dieser Tour grellrot vor meinem inneren Auge aufleuchtet. Am Ende einigen wir uns meist gütlich: Ich signalisiere dem Pferd, was ich möchte, es tut dann, was es möchte, und ich entscheide, dass das durchaus auch geht. In der Folge traben und galoppieren wir zu Anfang häufiger als beabsichtigt. 


Haldi and the Beast.

Mein Pferd, das sind eigentlich drei. Und die teilen wir uns zu zweit. Da ist Twitter. Ich habe ihn so getauft, weil er am liebsten anderen folgt - am allerliebsten den Schnellsten. Beim Testreiten stufen sie ihn als ruhig und ideal für mich als Anfängerin ein. Zwar sind seine langen Schritte elegant und sicher und er ist klug genug, seine eigenen Entscheidungen zu treffen, doch schielt er immer wieder begehrlich nach der Spitze des Trosses und tut alles dafür, dort auch zu sein. Das artet für mich nach ein paar Tagen in krampfhaft nach hinten gezogene Zügel aus, weil ich dieses Pferd mit meinen stechenden Knien einfach nicht unter Kontrolle halten, geschweige denn mit halbwegs innerem Frieden reiten kann. 






Die Entschleunigungskur heißt Honeybun und hat bisher Iris - nennen wir es gemächlichen Schrittes - durch die Weiten der Mongolei getragen. Nachdem Iris der stete Blick auf alle anderen unablässig furzenden Pferdeärsche nach ein paar Tagen zu dröge wird, tauschen wir Twitter gegen Honeybun, kompakten Stoff- gegen geschmeidigen Ledersattel und lösen damit alle Probleme, die wir augenblicklich haben. Honeybun, der im Mongolischen eigentlich "Schweinchen" genannt wird, weil er etwas mehr Antriebsarbeit benötigt als die übrige Meute, watschelt nun also wie eine schwangere Matrone unter mir her, und ich kann meinen Blick dem Himmel, den massig sprießenden Edelweiß, nach Salbei duftenden Wiesen und sanft geschwungenen Bergkuppen zuwenden. 





"Shu!", rufe ich und versuche ihm mit euphorischem Beckenschwung Ansporn zu sein. Iris strahlt. Das nehme ich zumindest an, denn den Rest des Tages ist sie ganz vorn und nun ist es an mir, die Pferdeärsche zu betrachten. 
Leider ist unser gutmütiges Schlusslicht für lange Strecken nur begrenzt zu gebrauchen, und so bekomme ich schon nach dem nächsten, mit klammen Fingern gelöffelten, morgendlichen Haferbrei ein neues Pferd: Steve McQueen. 




Zusammen erobern wir beide in der zweiten Woche die mittelschnelle Liga, und wenn er nicht gerade versucht, mich beim Bergabstieg zu einer schnelleren Gangart zu überreden, um dann zu stolpern und mich fast aus dem Sattel zu werfen, dann sind wir wie zwei Strickmaschen. 
Währenddessen lernt Iris Twitters eilige Seite kennen - nicht lieben. Da außerdem ihr Knöchel durch die ungewohnte Beinstellung mittlerweile bedenklich angeschwollen ist, setzt sie aus und vorerst die Reise im Jeep fort. Nachmittags,während wir uns in unseren blauen Zeltmuscheln einrichten, die sie gemeinsam mit Larry schon für uns aufgebaut hat, erzählt sie mit leuchtenden Augen von den löchrigen Buckelpisten, die die Fahrer in Gemütsruhe bewältigen. Geläutert kehrt sie letztlich ein paar Tage später zu Honeybun zurück, der sein breites Hinterteil wieder für sie in Bewegung setzt.







Twitter war der Sprung ins kalte Wasser, Honeybun die Oase für Nerven und Po. Steve McQueen hat mir gezeigt, dass Mut, der vielleicht auch nur die Überwindung der eigenen Krankenhausfantasien ist, und dazu Empathie und Loslassen Freiheit bedeuten. Manchmal setzen wir uns ein wenig vom Rest der Herde ab und traben im Gleichklang dem Horizont entgegen, und ich bin mir sicher, dass sein Lächeln in diesen Augenblicken fast mindestens genauso breit ist wie meines. 





Auf dem Ritt durch das, was Stadtmenschen wohl als Einöde bezeichnen würden, begegnen uns nun endlich die allein oder in Zweierformation stehenden Jurten, die uns Ulaanbaatar bisher verwehrt hat. Und damit auch die Familien, die in den Weiten der Steppe ihr Sommerlager aufgeschlagen haben, ihr Vieh hüten, ihre Kinder großziehen, ihre Pferde antreiben oder ihr Motorrad ausfahren. Und so sitze ich neben einer Urgroßmutter mit ernsten Augen. Vor uns zwei kleine Mädchen, einen Fuß auf dem Teppich, einen auf dem Steppenboden. Ihre Neugier, ebenso wie meine, ist zu groß, als dass sie lange schüchtern wegschauen könnten. Vor ein paar Tagen waren wir bei einer Familie, deren siebenjähriger Sohn schon drei Pferde verschlissen hat, weil er am liebsten Galopp reitet. Und ganz am Ende unseres Treks sind wir das Unterhaltungsprogramm für eine ganze Familie, als wir uns im Yakmelken versuchen. 
Auch jenseits der Dorfverbände oder Kleinstädte, die viele Kilometer weit entfernt liegen, sind die Menschen nicht einsam. Denn auf dem Land leben heißt unterwegs sein, Besuche abstatten und empfangen. Wann immer man an die Tür einer Jurte klopft, als einzelner Hirte oder zwölfköpfige Reisegruppe, ist man willkommen. Es gibt zu trinken und zu essen. Gesalzenen Milchtee, manchmal Milchwodka, Gebäck, einen Mehl-Butter-Stampf oder getrockneten Quark - oder einfach alles gleichzeitig. 







Danach wiegt der Magen schwer, und ich möchte mich auf einem der Familienbetten zusammenrollen und ein Nickerchen machen. Die unbedingte und bedingungslose Gastfreundschaft der Mongolen hallt in meinem Kopf nach. Wenn man bei uns unangekündigt an einem fremden Reihenhaus klopfen, das müde Haupt fraglos aufs Wildledersofa betten kann und am Ende des Tages vielleicht sogar noch eine spontane Kartenspielsause bei Wodka und importiertem "Weingetränk" möglich ist, dann habe ich Hoffnung für unsere Individualgesellschaft. 




Selbstverständlich romantisiere ich. Schon in Ulaanbaatar ticken die Uhren ganz anders als in der Steppe. Aber der Milchwodka möchte gerade nicht, dass ich meinen Blick auf das große  Ganze richte, auf das "Aber", er wünscht, dass wir, verdammmichnocheins, ein bisschen was lernen von den Nomaden.


Den Umgang mit Müll sollten wir uns besser nicht abschauen.


Der Hipster unter den Rindern: Yak.



Auch unser Camp zieht Besucher an. Einmal empfangen wir im Laufe eines Abends etwa acht Männer, die im angrenzenden Tal ihre Herden hüten. Ihr Interesse gilt meistens unseren mongolischen Herren, doch einer kann die Augen nicht von meiner Tätowierung lassen und sucht immer wieder den Kontakt. Er möchte gern, dass ich ihn ebenfalls verziere, zum Beispiel mit einem Pferd auf dem Unterarm. Entsetzt schüttele ich den Kopf. Wir lachen. 


Die andere Sorte Mustang.

Nach dem schweißtreibenden Ritt über sandige Steppe, dem Kampf gegen Flussströmungen, dem Durchwaten sumpfiger Wiesen wartet das Zeltcamp auf uns, das wir nahezu täglich gegen acht Uhr ab- und zwischen ein und drei Uhr woanders wieder aufbauen. Die Geländewagen fahren vor und suchen einen geeigneten Platz an einem Fluss, an dem wir das Lagerfeuer anfachen, den Ritt Revue passieren lassen, Gitarre oder Mongolisch üben und endlos spazieren können. Und so entwickeln sich rasch Routinen: Ankommen, im Fluss baden, Pferdebremsenstiche vergleichen, Unterwäsche waschen, vielleicht ein T-Shirt. Essen, und zwar gänzlich unmongolisch (Achtung, Sorglosigkeit - wir haben sogar eine Köchin!) und die gerade zum Trocknen auf dem Zelt verteilte Wäsche vor dem Regenschauer retten, von dem man wusste, dass er kommen würde, weil es gegen drei Uhr einfach immer regnet. Aber man wäscht trotzdem, nur für den Fall, dass heute doch alles anders kommt. Wir lesen und schlafen, hängen unseren Gedanken nach. Schafherden schieben sich vorüber, die Wrangler satteln die Pferde ab und führen sie zum Fluss, wir hören sie wiehern, wir schreiben oder reden, fotografieren und rufen "Pick up, pick up, pick up!" beim Kartenspiel 'Mass', dessen Regeln uns willkürlich erscheinen. Oder sinnen darüber nach, welche Fähigkeit wir bei einer Marsbesiedelung beisteuern könnten. 



Are you sure?

Von Irkhii Mergen und anderen Helden.

Im Waschzuber.


Ist noch Joghurt im Kühlschrank?



Die Fahrer, Wrangler und Dolmetscher sitzen nachmittags bei ihrer "man-time" um den eigens gebauten, zusammenklappbaren Ofen, klatschen und tratschen und rauchen. Wer behauptet, Männer hätten nur eine bestimmte Anzahl sprachlicher Zeichen, die sie pro Tag artikulieren können, war noch nie in der Mongolei.


Ofen mit Kochgeschirr.



Währenddessen warten sie darauf, dass ihr Essen gar wird. Denn keiner von ihnen würde anrühren, was wir essen, vor allem, wenn es vegetarisch ist. Da könnte man ja gleich mit den Pferden grasen. In einem Jurtencamp, in das wir zu Anfang der Tour einkehren, wird Abendessen serviert. Unser Fahrer Hlavga bekommt ein Hühnerschnitzel vorgesetzt und fragt irritiert, was das sein solle. Der Kellner erklärt, Hlavga sagt: "Das ist doch kein Fleisch, was soll ich denn damit?!" 
Essen ist gleich Fleisch ist gleich Schaf. Zumindest meistens und in verschiedenen Variationen. Gewürzt höchstens mit Salz und Pfeffer, jedoch nicht eintönig, wie die Fleischesser versichern. Jeden Tag kochen die Männer einen Eintopf mit Nudeln, Reis oder Kartoffeln, darin Zwiebeln, Knoblauch, Möhren und Schaffleisch. An den Schlachttagen - unterwegs werden zwei Schafe gekauft und sorgfältig zerlegt - gibt es größere Fleischstücke und Innereien, andere Teile werden geräuchert, der Kopf des Tieres wird mit dem Flammenwerfer abgekokelt und am nächsten Tag gegart. Als ich unseren Dolmetschern beim Uno-Spielen von der deutschen Fleischindustrie erzähle, schauen sie mich verständnislos an. Der Umgang mit Tieren ist hier ein andererer. Pragmatisch, ganz sicher, nie respektlos, nie verschwenderisch. Gerade auf dem Land könnte man sich dies überhaupt nicht leisten. Schlachten ist ein besonnener und stiller Prozess, bei dem es weder spritzendes Blut noch Tiergeschrei gibt. Wieder einmal frage ich mich, was wir uns ein paar tausend Kilometer westwärts anmaßen, abgeklärt und überlegenheitsgetrieben. 


Gewinnt in der Vielseitigkeit: Jeep mit Räucherecke.

Wie ein schwedischer Krimi: Das Fleisch hängt am Wagen.

Ähnlich wie die Wahrnehmung der Offenheit gegenüber Fremden wandelt sich auch die Wichtigkeit körperlicher Makellosigkeit. Draußensein ermöglicht bedenkenloses Schwitzen. Das tägliche Bad im Fluss hat eher belebende und willensstärkende als reinigende Wirkung. Die Strömung wird auch meine schweißfleckigen T-Shirts geduldig benetzen, und bei der Vorstellung von Waschperlen, Weichspüler und 60 Grad entdecke ich ihr eiskaltes Lächeln in der Uferböschung. Gleich neben den Zwei-Liter-Bierflaschen, die hier zur Kühlung lagern. 
Lagerfeuerrauch ist das Parfum, in das wir uns großzügig hüllen, und Mütze, Hut und Helm sind zarte Barrikaden zwischen uns und dem Konzept Frisur, erdacht von einer entfernten Zivilisation. 




Die Toilette ist ein täglich frisch gegrabenes Erdloch, umzäunt von einer breit gestreiften Plastikplane. Für Körper, Nase und den Weltfrischwasserbestand ist dies das Sinnvollste, was wir auf dieser Reise bisher erlebt haben. Ich habe nichts auszusetzen. 
Vor allem, wenn hinter dem Klohäuschen gleich die Steppe beginnt. Das heißt, eigentlich beginnt sie nicht, denn sie hat nie aufgehört. In ihrer pistendurchfurchten Endlosigkeit verschafft sie sich Respekt und lädt doch ein, sie zu durchstreifen, barfuß ihre Anhöhen zu erklimmen, ihren ruhigen Atem im Gesicht zu spüren, den Fluss, das Camp und das eigene Leben, ein Tal entfernt in Fliegengröße zu betrachten. Wieder füllt die Freiheit meinen Brustkorb und in der nächsten Sekunde schiebt sich die Vergänglichkeit achtsam dazu. Ich schaue ihm nach, dem Augenblick des unbändigen Glücks, den zu jagen, zu Fuß wie zu Pferd, sinnlos ist, und wandere zum Lagerfeuer zurück.

Eure Anja





* Wegen des bei Kosmos erschienenen gleichnamigen Jugendbuches musste dieser Blogpost einfach so heißen. Es geht darin um ein Mädchen, ein Pferd und die Mongolei. Wir waren also mit unserer Konstellation, zwei Mädchen, drei Pferde und die Mongolei, ziemlich nah dran.