Dienstag, 22. März 2016

Der gespaltene Apfel. Oder: die Highlights häufen sich.

Der Kreis hat sich geschlossen, die Rundreise auf der Südinsel Neuseelands ist vorbei. Am Freitag, dem 18.3., hatten wir unsere olle Kiwi zurückgegeben. Während ich diesen Blogeintrag schrieb, saßen wir wieder in Christchurch. Diesmal bei strahlendem Sonnenschein an einem in bunten Farben gestrichenen Holztisch im gemütlichen Garten von Miriam, unserer Airbnb-Gastgeberin.
Ich habe lange überlegt, was der Aufhänger für diesen Post sein könnte. Wie fasst man einen Monat zusammen, in dem so viel passiert ist, man so viel gesehen hat, wie nur selten? Die Highlights sollten die Rettung sein. Doch dann... naja, lest selbst.

Bis nach Bluff hattet ihr uns schon begleitet. Danach ging es für uns nach Te Anau und Milford Sound. Von dieser Region hatte man uns eigentlich abgeraten. Zu touristisch sei es dort, den Abstecher nicht wert, die Fjorde Norwegens genauso schön... Wir haben - zum Glück - nicht darauf gehört. Die Fjorde Norwegens kennen wir (noch) nicht und jetzt sind wir eben grade in Neuseeland. Also auf ins Getümmel der, zugegeben, relativ gehäuften Touri-Schar. Wir waren wie immer ziemlich spät dran, was zu unserer Ehrenrettung diesmal jedoch daran lag, dass wir eigentlich noch gar nicht vor hatten, bis Milford Sound zu fahren. 
Schon die Fahrt über den Pass und durch den Homertunnel war spannend und superschön: Die Strecke führt zunächst durch ein malerisches Tal, mit funkelden Seen links, sprudelnden Flussläufen rechts und hohen Bergen zu beiden Seiten. Eigentlich wollten wir an diesem Tag einen Teil des Routeburn-Tracks machen, einer der "Great Walks", die man in Neuseeland zuhauf findet und die man in Abschnitten oder über mehrere Tage komplett erwandern kann. Da aber schon der Parkplatz so voll war, dass wir unsere olle Kiwi nirgends mehr abstellen konnten, fuhren wir eben einfach weiter, das Tal entlang und bis zum Homertunnel. Hier standen ebenfalls einige Autos und Busse in der Schlange vor einer spektakulären Bergkulisse. Eine Anzeigetafel sagt einem, wie lange man noch warten muss, bis man den - zum Glück! - einspurigen Tunnel befahren darf. In unserem Fall waren es nur noch wenige Minuten. Der Tunnel ist sehr dunkel und ein bisschen angsteinflößend. Nur wenige, flackerne Lichter weisen einem den Weg, Wasser tropft von der Decke und die Straße ist unbefestigt, aber in gutem Zustand. Vor uns fuhr ein großer Reisebus, sodass wir wussten, dass unsere olle Kiwi leicht durch das enge Tunnelrohr passt. Wir klemmten uns also hinter den Bus (der erstaunlich schnell fuhr) und wurden am anderen Ende des Homers wieder heile ausgespuckt. 

In Milford Sound kamen wir kurz nach 15 Uhr an. Die meisten Ausflugsdampfer durch den Fjord legen nur bis 15.15 ab, was wir aber nicht wussten, als wir gemächlich vom Parkplatz zum Terminal taperten. Daher blieb uns nur die allerletzte (mit 70$ p.P. leider auch teuerste) Fahrt um 16.30 Uhr. Was sich aber als absoluter Glücksfall herausstellen sollte: nur ein sehr sehr kleines Boot, außer uns keine weiteren Schiffe im Sound, nur noch 8 andere (fast ausschließlich Deutsche) Touris und strahlender Himmel mit schönstem Beinahe-Abendlicht. 




Perfekte Voraussetzungen für eine grandiose Fahrt mit allem Drum und Dran, inklusive wunderschöner Wasserfälle und geduldiger Robben, die sich für uns und unsere Kameras in Pose warfen. Ergo: Es ist touristisch dort, aber eben auch unfassbar schön! 







Ergo 2: eines meiner Highlights bisher. Und wenn ich nach Norwegen komme, vergleiche ich gerne die Fjorde miteinander. Bis dahin bin ich sehr happy mit diesem hier.

An dieser Stelle spulen wir vor, obwohl die Woche im Fiordland insgesamt auch ein Highlight war. Traumhafte Berglandschaften, wunderbare Flüsse und Seen, schöne Wanderungen ... *hach*

Apropos Wanderungen: von dort aus brachte uns unsere olle Kiwi dann über Wanaka zu den beiden Gletschern, Fox und Franz Josef. 




Auch hier: Ja, ich kenne Gletscher aus den Alpen, aber dennoch haben mich diese beiden beeindruckt. 






Wir wanderten die Endmoränen beider Gletscher so weit entlang, bis der Pappschild-Ranger uns mit einem Lächeln vom Weiterlaufen abhielt. Haben aber weder eine geführte Tour noch einen Heli-Hike (10 Min. Hubschrauberflug + 2 Stunden Gletscherwanderung) gebucht, weil wir schon erschrocken sind, wie weit laut der vielen Infotafeln die Gletscher bereits zurückgegangen sind. Dazu wollten wir nicht noch mehr beitragen, als wir das sicherlich durch unsere Anwesenheit eh schon getan haben.

Das nächste Highlight war die Fahrt an der Westküste gen Norden. Man hatte uns schon prophezeiht, dass es hier ziemlich intensiv regnen würde. Als alte GB- und Skandinavien-Liebhaber lächelten wir erst milde und scheinbar wissend. Doch weit gefehlt. Was hier an Wasser runterkam, konnte man schon nicht mehr als "Regen" bezeichnen. Es schüttete wie aus Eimern und das ununterbrochen, stundenlang. Und so saß ich eines Tages etwas halbseiden auf dem Beifahrersitz, weil mich nach einem Frühstück mit dem Korn der Inkas (Quinoa) der Zorn der Inkas (Magen-Darm-Bäh)getroffen hatte, und bewunderte die Steilküste des Westens. 





Saftig grüner Regenwald, Steilklippen und donnernde Wasserfälle, die sich manchmal bis auf die Straße ergossen und unsere Kiwi auch vom letzten Staubkorn befreiten ... Wieder mal und wie so häufig einfach grandios und kaum zu beschreiben. Ein bisschen wie Island mit Regenwald und Sandfliegen. Eben ein weiteres Highlight.

Wieder spule ich vor, denn wie es die Überschrift schon verrät: Die Highlights häufen sich. 
Und mein absolutes Highlight der bisherigen Reise kommt jetzt: der Abel Tasman Nationalpark. Was uns in Neuseelands kleinstem Nationalpark an spektakulären Kulissen empfangen hat, sprengt beinahe diesen Blogeintrag. Denn wie kann ich noch vom "Aufhänger" Highlights sprechen, wenn hier fast ALLES ein solches ist?! Vergebt mir meine überschäumende Begeisterung, euch würde es in NZ sicher ebenso gehen! Zum Glück sind wir auch hier unserer Intuition gefolgt, denn der Verkäufer in einem Laden in Westport hatte uns gewarnt: Um diese Zeit sei es im Abel Tasman 'diabolical', nämlich brechend voll. Erstens war es das nicht und zweitens könnten wir verstehen, wenn es so wäre.

Schon die Fahrt mit dem Watertaxi ging prima los, als der Skipper nach einem gemächlichen Start plötzlich aufs Gas trat und wir die Küste entlang preschten, den Wind, die strahlende Sonne und die aufspritzende Gischt im Gesicht. Hell yeah!




Als erstes machten wir einen Abstecher zum Split Apple Rock, dem berühmten Felsen, der - surprise! - wie ein gespaltener Apfel aussieht. 




Das Motiv ausgiebig geknipst, gings weiter zur kleinen Adele Island, berühmt für ihre Robbenkolonie.((Anmerkung Anja: den folgenden Satz bitte mit mindestens um eine Oktave erhöhter Stimme lesen!)) Dort habe ich zum ersten Mal RobbenBABYS gesehen und JA!, das IST so niedlich, wie es sich anhört! Die Kleinen tollten auf den Klippen herum, hüpften von Fels zu Fels und quietschten um die Wette. Highlight? Was sonst!

In Anchorage stiegen wir, nach einer weiteren rasanten Fahrt aus, um den Coastal Walk zurück nach Marahau zu wandern. 




Was soll ich noch sagen, auch das war einfach wunder-, wunderschön: Zahlreiche kleine Buchten, goldene Sandstrände, türkisblaues Wasser, der tolle neuseeländische Wald, üppig bewachsen mit vielen Baumfarnen, die ich liebe, und strahlender Sonnenschein. Vier Stunden herrlichster Wanderweg mit staubigsten Flipflop- und Chala-Füßen auf der Zielgeraden. Highlight! :)










Um unseren Beinen eine Pause zu gönnen, buchten wir am nächsten Morgen eine Kajaktour zum Split Apple Rock. 








Zum Glück war der Himmel etwas bedeckt, sonst hätte es uns vermutlich verbrutzelt. So aber war's perfekt, drei Stunden Kajaktour auf glasklarem, spiegelglattem Wasser inklusive Picknick an einem der goldenen Strände. High... Ich sag's nicht. 

In der Hoffnung, dass es einige Leser bis zum Ende dieses ellenlangen Posts geschafft haben, verrate ich noch, dass eigentlich auch Kaikoura auf dem Rückweg gen Christchurch ein H... war, welches ich jetzt aber weglasse, um das Risiko eines Fingermuskelkaters zu minimieren. Vielleicht schreibt ja Anja was darüber. 
Danke fürs Lesen und eure Begleitung, wir "sehen" uns auf der Nordinsel wieder!
Alles Liebe,
Eure schwelgende Iris

Montag, 7. März 2016

And the Award for finding a Fernseher goes to ...

Nach der in unserem Kulturkreis angenommenen Zeitrechnung sind wir seit einem Monat unterwegs. Es könnten auch anderthalb Wochen sein. Oder ein halbes Jahr.
Die Art, wie wir reisen, erfordert in acht von zehn Fällen den energischen Blick voraus. Routen planen, Lebensmittelvorräte anlegen, die man zu zweit aufbrauchen kann, bevor sich der immer wieder die Kühlkette unterbrechende Kühlschrank in unserem Van seinen Teil davon holt, ohne auf frisches Obst und Gemüse, auf Milchkaffee, Porridge und Spiegeleier verzichten zu müssen. Wanderwege eruieren. Entfernungen und Zeit abschätzen.
Während hier so langsam die Hagebutten erröten und der Teint so langsam auch ohne Rouge nach Leben aussieht, wird uns, ebenfalls vorausschauend, klar, dass wir in diesem Jahr keinen Frühling erleben werden. Wir sind aus dem Winter direkt in den Spätsommer gereist, werden Herbst und wieder Sommer und dann gleich wieder Winter durchleben. Also alles ein wenig anders als sonst.
Ein Highlight meiner sonst üblichen Winter ist die Oscarverleihung im späten Februar. Kinoprogramme-Studieren und gezieltes Filmegucken gehören für mich zum festen Ritual in den Monaten davor. Nach der Verleihung nehme ich immer einen Tag Urlaub, um ungestraft bis sechs Uhr morgens auf einer samtweichen Couch fernsehen zu können. Obwohl ich dieses Jahr eine Pause zu machen gedachte, einfach, weil es genug andere Dinge zu tun gab, konnte ich letzten Endes doch nicht anders und bin wieder einmal mehr ins Kino getingelt, um mich adäquat vorzubereiten. Die Verleihung anschauen? Hm. Mal sehen, was sich so ergibt (Klassische Koffer-Mentalität.). Immerhin musste ich nicht extra frei nehmen.

Zeit: Montag, 29. Februar. Anders als an anderen Tagen, an denen es Gespräche gibt, die wie folgt ablaufen: “Was haben wir heute eigentlich? Mittwoch?” “Freitag.”, wissen wir beide sehr genau, welcher Tag heute ist.
Ort: südlicher Zipfel der neuseeländischen Südinsel. Colac Bay.

Selber Ort, am Abend zuvor.

Handlung: Wir wachen auf. Nach einer unruhigen Nacht mit viertelstündlichen Schlafintervallen, in der der Regen von allen Seiten gegen unseren Camper trommelte, nay, thrashmetalte, während die dazugehörige Brise uns die physikalischen Grundlagen von vergleichsweise schmales, hohes Auto plus Windgeschwindigkeit plus ungeschütztes Parken direkt am Meer ist gleich eine weniger gute Idee vermittelte.
Trotz des Schlafmangels ist die Mission für den Tag so klar wie der Oscar für Leonardo diCaprio: Findet einen Fernseher.
Also rechnen unsere Hauptdarstellerinnen die voraussichtliche Anfangszeit der Show inklusive Zeitverschiebung aus, was bei exakt zwölf Stunden keine höhere Mathematik ist, und fahren ein paar hundert Meter zum nächsten Backpackerhostel/Motorcamp in Colac Bay.
Die Bar ist menschenleer. Im Radio läuft ein Lied, das klingt, als würden wir gerade in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten mit unserem Truck zum Holzmachen fahren, nachdem wir zum Frühstück drei Eier mit kross gebratenem Bacon verdrückt haben.
Der Betreiber des Camps und ich blättern gemeinsam das Fernsehprogramm in der Tageszeitung durch. Academy Awards gibt es in Neuseeland exklusiv auf Sky. Movie Premiere. Hat er nicht. “You should find a motel.”
Also weiter, oder besser zurück nach Riverton. Dort gibt es mehr Touristen, ergo bestimmt auch Motels. Die Frau in der Touristeninformation lacht immerhin herzlich, als ich ein Motel mit Stundenpreisen vorschlage. Sie würde mir ihren eigenen Fernseher anbieten, aber Sky hat sie nicht. Dann lieber nicht.
Das örtliche Pub, “The Carrier of Arms”? Die kühle Blonde an der Bar schaut nachdenklich. Sie schaltet sich durch alle verfügbaren Sender und ruft schließlich den Mann zu Hilfe, der gerade den Spielautomaten repariert, extra für mich auf seinem Smartphone recherchiert und wissen will, ob “The Revenant” wirklich so gut sei. Ergebnis: Man würde extra für mich das Fernsehprogramm im Pub ändern, aber es gibt den richtigen Kanal nicht.
Zwei Orte weiter.
Ein Hotel. Sie haben Sky. Aber nur die Sportkanäle.
Ein Motel. “This is an unusual question indeed.”
Die nächste Touristeninformation. Wäre ich auf der Suche nach dem passenden Wandertrail, hätte man Dutzende Flyer für mich. Es überschreitet fast die Grenze zur Frechheit, bei der umgebenden Landschaft nach einer Glotze zu fragen, vor der man den Nachmittag verbringen kann.
Exklusivität ist so eine Sache. Sie ist der kapitalistische Euphemismus für Ausgrenzung, eine Art Autokratie, der sich in Southland offenbar niemand unterworfen hat.
Noch zwanzig Minuten bis zum Eröffnungsmonolog. Meine Spur führt mich in die Last Light Lodge. Last Hope für mich. Im Film hätte die Musik längst drängende Rasanz erreicht, die Violinisten würden mindestens in Sechzehnteln streichen.
Schnitt zu einer freundlich, aber schüchtern lächelnden Französin hinter dem Tresen. Ich trage mein Anliegen vor. Sie zögert. Sie ruft ihren Chef.
Schnitt. Ich laufe zum Auto, um Iris zu holen.
Schnitt. Mein Gesicht, halbnah. Ich schüttele den Kopf.
Eigentlich müsste es jetzt regnen.
Mission gescheitert. Sowas passiert sonst maximal bei Wim Wenders. Und so cinematografisch ästhetisch war der Vormittag nicht einmal.
Aufgeben? Ja. Muss auch manchmal sein. Unsere Heldinnen ertränken ihre gar nicht so große Enttäuschung in der Sauce Hollandaise, in der zwei “Eggs Benaddict” schwimmen.

Fett hilft.


Katze streicheln hilft auch.

Manchmal fällt es nicht leicht, bei aller Aufregung und Begeisterung für das Neue, das wir täglich sehen, hören, fühlen, auf die liebsten Rituale verzichten zu müssen. Aber wir waren einen Vormittag lang zwei Frauen mit einer Mission, auf einer fluchtwagenartigen Fahrt, die uns an Orte geführt und mit Menschen ins Gespräch gebracht hat, an denen wir sonst ganz sicher einfach vorbeigefahren wären.


Bonuspunkt: Der Blick ist wieder frei für Natur. Monkey Island.

Der Blick zurück, der bei aller Voraussicht notwendig für die Seelenhygiene ist, ist also keineswegs trauerumflort, auch wenn ich die Verleihung gern am Stück und nicht in rudimentären Bruchteilen vier Tage später im Internet auf einem Campingplatz in Wanaka gesehen hätte.
Und letztlich sorgt die Reiseregie doch noch für ein Happy End: Dinner (Pizza mit Pilzen, Parmesan und Trüffelöl bei Francescas Pizza-Foodtruck), and zuvor a movie (“Spotlight”) im einzigartigen “Cinema Paradiso”, in dem man in alten Sofas oder gebraucht gekauften Flugzeugsitzen versinkt und in der Pause seine Zähne in frisch gebackene Double Chocolate Chip Cookies schlagen kann. Oder ein hausgemachtes Eis mit klingenden Namen wie “Chunky Monkey” (Banane und geröstete Erdnüsse) löffeln.
Ausgleichende Gerechtigkeit für erfolglose Cineasten existiert also. 
Und morgen gibt’s wieder Gemüse.

Freitag, 4. März 2016

This is not a Bluff. Or is it?

Heute sind wir den halben Tag durch die Weiten Schottlands (Te Anau bis Queenstown) gefahren und haben die mit rauem Velours bezogenen Berge bestaunt, bevor wir uns über Serpentinen auf eine isländische Anhöhe zwischen Arrowtown und Wanaka hochgeschraubt haben. Von Dienstagnacht bis Freitagfrüh waren wir in Norwegen/in den Fjordlands, haben Berge bezwungen, die unsere Gelenkscharniere beim Abstieg zurückbezwungen haben, und die gänzlich unbeeindruckten Robben im Milford Sound beobachtet. Zuvor tranken wir zum Frühstück Ginger-&-Lemon-Tea an der regnerischen Südküste Englands (Catlins) und badeten zwischendurch nachmittags in kristallklaren Seen Südfrankreichs (Lake Pukaki, Lake Te Anau) und wachten am italienischen Meer auf(Brighton/Riverton).






Drama in Riverton


 
 Lake Te Anau


Wunderschön und abwechslungsreich und hinter jeder Kurve was fürs Auge. Und wir mittendrin. Am Meer, an Seen, an Neuseelands ältester Hängebrücke, am Fuß eines wuchtigen Bergmassivs parken wir unsere olle Kiwi. Manchmal auch einfach am Waldrand nahe der Straße. Wir tunken die Füße ins Meer, schmeißen uns in Ermangelung von Duschen in den nächsten See/den glasklaren Fluss und ignorieren 
manchmal auch die Tatsache, dass die letzte Dusche auf einem der bezahlten Plätze mit Strom mehr als 48/72/96 Stunden zurückliegt.
Die frisch geschorenen Schafe um uns herum scheint es nicht zu stören, und all die 
Possum-Roadkills entlang der Southern Scenic Route machen sowieso keinen Mucks mehr.


Manchmal gibt es auch Ortschaft, rangierend von praktisch-nicht-existent über mini und klein bis hin zu mittel, je nachdem, ob man als Maßstab Singapur oder Trier-Süd anlegt. Unter Touristen/Reisenden/Weltenbummlern/Travellern¹ rangieren diese Ortschaften in verschiedenen Kategorien:
a) Ein “Must-See auf meiner Bucket List!”
b) reuelos durchfahren oder vorher abbiegen, um schneller bei a) anzukommen
c) guter Punkt, um günstig Lebensmittel/Benzin zu erwerben und dann rasch weiter zu a).

Invercargill fällt gleich in zwei Kategorien: b) und c). Wer Zeit hatte, um die Catlins zu bereisen, wird, bei der Weiterfahrt in Richtung Fjordlands an der 
Westküste, irgendwann unweigerlich vor der Frage stehen: ‘Müssen wir unbedingt in Invercargill Halt machen?’

Dies ist ein Plädoyer fürs Anhalten. Für das Innehalten in Invercargill.


  Dazu muss man wissen, dass ich von jeher nicht mit preußischer Zackigkeit gesegnet bin, wenn es ums Reisen geht. Ich stehe nicht morgens als Erste über der Landkarte, während nebenbei die Eier überm Gaskocher schmurgeln. Ich weiß in der Regel nicht, wer das, was vor mir liegt, erfunden oder entdeckt oder siegreich errungen 
respektive in einer blutigen Niederlage drangegeben hat. Und auch dann kann es sein, dass ich an den herausragendsten Ruinen mit den einzigen mundgeblasenen
 Buntglasfenstern der südlichen Hemisphäre vorbeilaufe. Wenn man Touristen/Reisende/Traveller/Weltenbummler in Kategorien einteilen würde, sähe das meiner Ansicht nach so aus:
a) Reiseführer
Sie wissen, wo es langgeht. Sie haben die richtige Literatur dabei/gelesen, stehen früh auf und haben einen mehr oder minder ausgefeilten Plan in der Tasche, was der Tag bringen wird. Sie wissen, wie hoch der Berg vor ihnen ist, wer ihn entdeckt hat, wann die Kirche am Hang von wem warum gebaut wurde etc. Sie sind bestens ausgerüstet und haben immer genug Trinkwasser und Speicherkarten dabei.
b) Surfbretter
Sie kennen die coolen Spots. In angerautem Indiechic chillen sie an den lässigsten Beaches mit den süßesten Babes, wissen scheinbar immer, wo die Wellen gerade perfekt sind und wo man abends beim Sonnenuntergang ein schönes kaltes Bier mit dem Feuerzeug aufmacht, während einer der Kumpels auf seiner Gitarre klampft. Wahlweise können sie skaten/surfen/snowboarden oder alles.
c) Koffer
Man stellt sie ab und dann stehen sie erstmal da. (Sie sind ja neu hier und haben keinen Plan.) Deshalb stolpern die anderen beiden auch oft erstmal darüber - an gut 
besuchten Orten sind sie also eher unpraktisch. Koffer stehen gern, gucken und 
lassen Menschen und Eindrücke an sich vorüberziehen. 
  
Meine Mutter sagt heute noch, ich sei der beste Schläfer im Kindergarten gewesen. (Es geht hier um die Ruhepause nach dem Mittagessen, nicht um Spionageaktivitäten.) Es sollte nicht allzu schwer sein, sich auszurechnen, zu welcher Gruppe ich zähle.



Invercargill ist eine Stadt, in der der Bürgermeister die lokalen Kernkompetenzen wie folgt beschreibt: “Invercargill is not a brash powerful Supercity. It is a modest, unassuming, friendly, urban community. (...) Many visitors also invest in 
Invercargill real estate because it is so affordable.”² Na schön.

Das langgezogene, schnurgerade Straßennetz mit Ladengeschäft an Autowerkstatt an Kebabladen an Sanitärfacheinrichtung an Autowerkstatt an Internetcafé an Imbiss an Autozubehörlieferant sorgt dafür, dass hier kaum jemand läuft. Die Ampeldichte und -schaltung tragen wiederum dazu bei, dass man ziemlich oft steht. Dabei hat man aber ausreichend Zeit, um die bunt gemischte Architektur zu betrachten oder sich Gedanken zu  machen, was man im ersten günstigen Supermarkt seit Hunderten von Kilometern zum Abendessen einkaufen wird.






Bester Döner  von Southland?

Die örtliche Touristeninformation bietet nicht nur die üblichen Broschüren zu Helikopterflügen, Fjordfahrten und Raftingabenteuern, sondern auch ein fabelhaftes Museum mit vielerlei Gemälden lokaler Künstler, Historie, original Maorikanus und sogar Tierleben. Die Echse Henry, gegen Ende des 19. Jahrhunderts geboren, lebt mit einigen Artgenossen hier. Henry habe im Alter von ca. 106 Jahren zum ersten Mal geruht, sich einer Paarung hinzugeben, erzählt mir Schaffarmer Frank aus Gore, der außerdem sofort erkannt hat, dass ich im richtigen Leben wohl einen “clean job” ausüben muss - wegen meines ordentlichen Haarschnitts. Da er noch wilder oberhalb der Stirn aussieht als ich gerade, möchte ich ihm glauben, dass er mich nicht vereimert hat.








Die Stadt wartet außerdem mit einem Radweg zum ca. 30 km entfernt gelegenen Bluff auf. Bluff ist nicht nur für sein Austernfestival (im Juni), sondern auch für seine Wegweiser am südlichsten Punkt der Südinsel bekannt, und bietet darüber hinaus auch einen wunderbaren Küstenweg entlang des azurblauen Meeres und durch wundervoll verwunschenen, vermoosten und -flechteten Wald, wie man ihn oft auf der Südinsel findet. Bluff wird nicht das “Hollywood des Südens” genannt, könnte es aber: wegen seiner fabelhaften rostigen Buchstabeninstallation am Ortseingang, mit Liebe zum Detail - die Buchstaben stehen auf weißen Muscheln.
In und um Invercargill gibt es durchaus Einiges zu sehen, mit einer Ausnahme: Touristen/Reisende/Traveller/Weltenbummler sind rar. Ich sehe kaum Menschen mit Fleecewesten, An-und-Abzip-Ultraleichthosen und digitalen Spiegelreflexkameras vorm Gesicht. Vielleicht gibt es zu wenige Action-Hotspots oder Highlightfotomotive für die Bucket List.
Dafür haben sie eine Kirche mit einem Plakat vor der Tür: “Jesus… Yeah! … Nah … It’s the choice of a lifetime.” Keine Ahnung, wer die Kirche gebaut hat. Aber ich liebe das Plakat.
In Invercargill ist genug Stille für meinen inneren Koffer. Mehr Alltag. Mehr Innehalten. Invercargill … Nah … Yeah!


Eure Anja


¹ Für mich liegt die Grenze zwischen den Ausdrücken lediglich bei Eigen- und Fremdwahrnehmung. Man selbst ist natürlich ein Reisender, die Anderen sind bloß Touristen. Komischerweise stehen immer die anderen im Weg, wenn man selbst gerade ein irrsinnig originelles Foto machen will.
² vgl. Invercargill City Guide, 2016, S.3