Samstag, 20. August 2016

Die Ankunft des Zuges

Wenn ich 'Ulaanbaatar' in mein Handy eingebe, wandelt es den Namen in 'unantastbar' um. Eine schamlose Unterstellung der Autokorrektur, die mich nicht davon abhält, mir mein eigenes Bild zu machen.
Die mongolische Hauptstadt mit dem schönen Namen 'Roter Held' enttäuscht auf den ersten Blick. Vor uns liegt keine Ansammlung von Jurten, vor denen Pferde stehen, rotwangige Kinder spielen und Erwachsene im traditionellen Deel Reisende mit Gebäck, Milchtee und Wodka willkommen heißen. So wünscht man es sich als Tourist doch insgeheim. Irgendwann an einem Ort ankommen, an dem die Menschen ihre Traditionen immer noch so leben wie anno dazumal, damit wir etwas Reines, Unverfälschtes und Exotisches erleben und mit nach Hause in unseren Alltag, unseren Fastfoodimbiss, unser Bürogebäude tragen können. So tun, als existierten die Erschütterungen nicht, die jeder Schritt jedes Touristen, jedes Instagram-Foto und jeder Insidertipp mit sich bringen.



Natürlich gibt es Gers (Jurten) in der Stadt. Sie stehen ganz am Rand, dicht zusammengedrängt, und nichts erinnert mehr an die Weite des restlichen Landes. Immer mehr Menschen zieht es, freiwillig oder notgedrungen, hierher. Sie wollen die Annehmlichkeiten des urbanen Lebens genießen oder haben ihre Lebensgrundlage verloren, weil ihr Vieh in einem der vergangenen harten Winter erfroren ist. 


Chinggis Khan Square

Das Stadtzentrum ist eine Mischung in jeglicher Hinsicht. Buddhistische Tempel, Sowjetplattenbau, Prunkdenkmäler und gläserne Wolkenkratzer. Bröckelnde Fassaden schmiegen sich an unfertige Betonskelette, und man kann nicht sagen, ob die Arbeit daran nur vorübergehend oder für immer eingestellt wurde. Wir können wählen zwischen Kehlkopfgesangsdarbietungen und Morin Khuur (Pferdekopfgeige) und Jazzclub oder Electromusic-Event, zwischen Buuz (gedämpfte Teigtaschen mit Fleischfüllung) und Khuushuur (frittierte Teigtaschen mit Fleischfüllung), koreanischer Nudelsuppe, Pizza und den frittierten Hühnerteilen der amerikanischen Imbisskette. Wir sehen Deel neben Jeansshorts neben Designerkleid. Es scheint, als wäre hier für alles Platz, als wolle man aufbrechen in eine neue Zeit mit Caramel Frappuccino und Nahverkehrs-App, während gleichzeitig die Einflüsse der Sowjetzeit und der Stolz auf die eigene Geschichte nach wie vor bedeutend sind - nicht nur als Werbebild für Touristen, sondern als selbstverständlicher Teil der eigenen Identität. 







Ich kann mich nicht satt sehen an den kyrillischen Schriftzeichen neben englischsprachigen Werbetafeln, an den Leuten, die aus dem Kofferraum ihres Wagens Obst, Nüsse, Strümpfe und Sonnenbrillen verkaufen, während die überall gegenwärtigen Einkaufszentren Hochglanzprodukte anpreisen. Gegensätze ziehen an, wie es scheint.





State Department Store

Bogd Khans Winterpalast

Schon als wir in Peking am Gleis der Transmongolischen Eisenbahn nach unserem Waggon suchten, erfasste mich ein unvergleichliches Hochgefühl. Mit den Rucksäcken auf dem Rücken und vor der Brust, den großen Wasserflaschen und den eilig gekauften Snacks in der Tragetasche und dem Zug vor Augen, stieg eine kindliche Freude mit solcher Wucht in mir auf, dass ich am liebsten gerannt wäre - wenn ich gekonnt hätte.
Wir hatten Liegeplätze in der zweiten Klasse, "hard sleeper". Außer uns fuhr eine Deutsche im Viererabteil mit, die drei Monate lang in UB, wie die Einheimischen es nennen, Deutsch an der Universität unterrichtet und gerade in China Freunde besucht hatte. Wir redeten übers Reisen, über Sprachen, übers Studieren, Essen, Lesen und Leben in der Mongolei. Und immer wieder schauten wir aus dem Fenster, vor dem die  Landschaft sich beständig wandelte.







27 Stunden, die zur kurzweiligsten Zugfahrt meines bisherigen Lebens wurden, dazwischen eine Nacht auf unseren Betten mit den altmodisch gemusterten Schutzbezügen, steif gestärkten Laken und einer kratzigen Wolldecke. Von den Plattenbauten Pekings durch das bergige Umland und entsprechend viele Tunnel, vorbei an weiten Flächen, durch Steppe, bis der Wüstensand am Fenster vorbeiwehte, der schließlich frischen Wildblumen und irgendwann den grünen Hügeln um Ulaanbaatar wich. Zwischendurch packten wir den Proviant aus, der uns in den Märkten am Bahnhof besonders vielversprechend erschienen war: Sandwiches, bleiche, aber schmackhafte Hafercracker, Kekse, die eigentlich Minipfannkuchen mit rotem Bohnenmus waren, Pralinen in bunt glänzendem Papier, die sich als Trockenfrüchte herausstellten, geröstete Erdnüsse. Warum wir auf die Pappbecher mit koreanischen Trockennudelsuppen in x Variationen verzichtet haben, für die man im Zug überall kochend heißes Wasser bekommt, wussten wir irgendwann selbst nicht mehr. 



Radwechsel

Speisewagen




Dafür gab es am Morgen nach einer unruhigen Nacht mit Räderwechsel (Die chinesischen Gleise sind ein paar Millimeter breiter als die mongolischen, also werden an der Grenze die Waggons angehoben und die Räder ausgewechselt.) und Grenzkontrollen (1x chinesischer Zoll, 1x Passkontrolle und Ausreiseformular, 1x Passrückgabe, 1x mongolischer Zoll, 1x Passkontrolle und Einreiseformular, 1x Passrückgabe, verteilt über drei Stunden) hauchdünne Pfannkuchen mit Marmelade im Restaurantwagen. Wir schlugen das erste und einzige Buuz-Angebot am letzten Bahnhof vor UB aus, wo Frauen selbstgemachtes Essen und Naschzeug verkauften. Und schließlich tauchte sie auf, die ersehnte Stadtsilhouette, die bisher nur ein Name auf meiner Reisewunschliste war, und der Zug spuckte uns aus, mit unserem übriggebliebenen Trinkwasser und fremden Währungen in der Tasche. 

Am Geldautomaten neben dem Bahnhof drängten sich zehn Frauen um diejenige, die gerade ihre Tugrik abhob. Vielleicht lag das nur daran, dass die meisten versuchten, mit mehreren Karten in mehreren Stufen abzuheben, was eben Zeit kostete. Für unser Bedürfnis nach Privatsphäre war es, nun ja, ungewohnt und ich wartete fast darauf, dass jemand unsere PIN rufen oder uns sagen würde, wieviel wir abheben sollten. Doch als wir einmal nicht weiter wussten, drückte gleich jemand unaufgefordert von links den richtigen Knopf und der Automat tat, wie ihm geheißen. 
Scheine in der Tasche, weiter zum Transport. Kein offizielles Taxi in Sicht. Aber: In UB ist eigentlich so ziemlich jedes Auto ein Taxi. Wenn man sich am Straßenrand bemerkbar macht, hält meist ziemlich schnell ein (Privat-)Wagen, der einen idealerweise für ca. 800 Tugrik (40 Cent) pro Kilometer mitnimmt. 
Alle anderen Reisenden schienen abgeholt zu werden. Ratlos schauten wir uns auf dem Vorplatz um, von Bali schon daran gewöhnt, dass unmittelbar jemand zu Hilfe springt. Erst als wir mit Gesten und "Taxi?"-Fragen die Frau am Parkplatzwachposten ansprachen, nötigte sie einen Herrn, uns doch mitzunehmen. Wir quetschten uns auf den Rücksitz, Iris zeigte ihm die Adresse in mongolischer Schrift und es ging los in den Verkehr. Auf Bali war Hupen fester, konstruktiver Bestandteil eines sanft fließenden Prozesses. In Ulaanbaatar ist es das auch - minus konstruktiv und minus fließend und minus sanft. Vielmehr ist es ein Meckern, während man stoßweise vorankommt, Kurven schneidet und sich über im Weg stehende Vehikel erregt. Ampeln werden von Verkehrspolizisten ergänzt und man weiß als Fußgänger oft nicht ganz genau, ob man dem stabschwingenden Uniformierten, dem Lichtsignal oder der eigenen Vernunft/Risikobereitschaft trauen soll. 


Frühstück mit Aruul.

Buuz

Khuushuur


Unser erstes kulinarisches Zusammentreffen mit der Mongolei: Aruul. Das ist ein getrockneter vergorener Quark, der endlos haltbar ist, je nach Alter bröckelig bis steinhart (deshalb ist Lutschen ratsam, wenn man seine Amalgamplomben nicht dem Härtetest unterziehen will) und den Mongolen als Snack dient. Ich mag den süßsäuerlichen Geschmack. Unsere Gastgeberin ist überrascht, als ich danach frage, wo man die wie Gipsformen zum Selbstbemalen aussehenden Quarkteilchen kaufen kann. Ich bin wohl die erste, der sie geschmeckt haben. 
Unsere Experimentierfreude schlägt sich  ferner in Buuz und Khuushuur nieder, die wir am nächsten Tag mit der traditionellen Schaffleischfüllung im Restaurant bestellen. Das dehnt sicher die Komfortzone des Vegetariers, aber ich will wissen, womit ich es zu tun habe bei den Nationalgerichten. Kulinarisch wird dies das Highlight unserer ersten Woche in der Mongolei bleiben, denn kurze Zeit später bekommt erst Iris Magen-Darm-Probleme und schließlich auch ich. Ob es am Essen, am Wasser oder etwas ganz Anderem liegt, wir wissen es nicht (ich halte an meiner Zahnputz-mit-Leitungswasser-These fest), beschränken uns ab da aber leider auf Schonkost in Form von Reis und Bananen, die zwar tatsächlich vergleichsweise teuer sind, aber da wir nichts anderes essen, trotzdem nicht zu Buche schlagen. 


Naadam im Stadion







Besonders bitter ist unsere Schondiät beim Naadam-Festival, wo Menschen sämtlicher Altersgruppen zusammen kommen, um die Wettkämpfe in den drei traditionellen Disziplinen zu sehen: Ringen, Reiten, Bogenschießen. Rund herum gibt es ein großartiges Programm mit Reiterdarbietungen, Musik und einer Show, die die Geschichte des Landes darstellt. Und dazu eine jahrmarktartige Budenlandschaft mit Eis, Süßigkeiten, fettig frittierten Köstlichkeiten. Wir schauen uns tapfer an, schieben uns noch eine Handvoll gekochten Reis in den Mund und halten nach einem Obststand mit Bananen Ausschau.
Man kann T-Shirts, abwaschbare Tattoos und Zuckerwatte kaufen, den Kindern das Gesicht bemalen lassen, sich mit einem sehr traurig dasitzenden Adler auf dem Arm fotografieren lassen oder gegen eine kleine Gebühr eine Personenwaage nutzen, die der Anbieter schmucklos vor sich hingestellt hat. Aber wer will schon einen offensichtlich gestressten Adler noch weiter unter Druck setzen oder Geld bezahlen, um das eigene Körpergewicht zu erfahren? Da bleiben wir lieber beim wettbewerblichen Festhalten an der Klimmzugstange stehen und bewundern nicht nur Kraft und Ausdauer, sondern auch die Vorliebe vieler mongolischer Männer, ihr Shirt zum bauchfreien Outfit umzufunktionieren.



Winterpalast

Intellectual Museum


Auch wenn man uns schon am ersten Tag gesagt hat, dass ein bis zwei Tage in der Stadt völlig ausreichten, werden uns die zehn Tage, bevor unser Pferdetrek losgeht, nicht lang. Gewohnt gemächlich unterwegs, erkunden wir das Intellectual Museum, eine Ansammlung von international gesammelten Knobeleien, Schach- und traditionellen mongolischen Spielen. Wir gehen auf die Jagd nach gemütlichen Schlafsäcken im State Department Store, UBs bekanntestem Einkaufszentrum. Wir gucken uns eine Tanzaufführung an und tanzen unter den gestrengen Augen Chinggis Khans selbst einen Charleston bei der verregneten Swing Night. Der ASEM-Gipfel beschert uns einen Tag lang fast verkehrsfreie Straßen und merkwürdige Stille im Winterpalast von Bogd Khan. Mitreißenden Kehlkopfgesang, Pferdekopfgeige, Cajon und Yatka gibt es beim Gratiskonzert auf dem Chinggis Khan Square, alles andere als klösterliche Ruhe in der Gangdan Monastery. 


Danke, Angela M.: Kein Verkehr auf der Peace Bridge


Chinggis Khan Denkmal


Ulaanbaatar hat viel zu bieten. Und es sind wieder einmal die Details, die Alltäglichkeiten, die mich zum Innehalten und Staunen bringen. Das Orakel der Schafgelenkknochen einen Blick in die Zukunft werfen lassen, während man im Restaurant auf das Essen wartet. Street Art entdecken und Kyrillisch entziffern. Warten, bis abends am Chinggis Khan Square die Beleuchtung eingeschaltet wird und wieder einmal mit Kleinkindern Grimassen schneiden. Bei epischem Regenfall beobachten, wie Straßen sich in Flüsse verwandeln und Ladenangestellte versuchen, der Wassermengen mit dem Besen Herr zu werden, teichartige Pfützen überspringen und Unterschlupf in der nächsten Bäckerei suchen und für etwa 90 Cent eine Ohnmachtswaffel mit unerhörter Cremefüllung kaufen. Eine Kuh allein und seelenruhig die vierspurige Straße überqueren sehen. Auf dem Black Market alles finden, von der Kamelhaarweste über gebrauchte Sneakers und Ecksofas bis hin zu Holzsätteln zum Selbstbeschlagen. Im Winterpalast eine Jurte aus 150 Leopardenfellen entdecken.






Ein einem Kinderlied gewidmetes Denkmal






Am Ende der zehn Tage werden wir in drei verschiedenen Wohnungen gewohnt haben: Im neueren Plattenbau, im älteren Sowjetplattenbau, im modernen Appartment-Turm (schön gesagt für: ganz neuer Plattenbau). Wir werden drei Ansätze kennen gelernt haben, in dieser Stadt zu leben. Man wird uns herzlich willkommen geheißen haben, wenngleich nicht mit Pferd vor der Jurte, so doch mit einem, mit vielen, freundlichen Lächeln und neugierigen Blicken.
Eingängig hübsch ist er vielleicht nicht, der Rote Held, mit seinem Smog, dem manchmal unberechenbaren Verkehr und der wüsten architektonischen Mischung. Doch er strahlt Optimismus aus, Aufbruchsstimmung und hat in seiner Unfertigkeit ein sicheres Fundament in meinem Reiseherzen.


Eure Anja