Donnerstag, 22. Dezember 2016

Die ganze Welt in Jordanien

"Amman!" Das Gesicht des Sicherheitsbeamten am Flughafen hellt sich auf.
"Arbeit oder Vergnügen?"
"Vergnügen."
"Können wir tauschen?"
Auf keinen Fall.
Ich habe meinen Rucksack auf dem Rücken, ein Ticket mit meinem Namen darauf in der Hand. Ich grinse.
Jordanien ist ein besonderes Ziel. Ich werde an einem Projekt teilnehmen, das sich "Greening the Desert" nennt und nach Permakulturprinzipien bewirtschaftet wird. Neue Leute, neues Land, neuer Stoff für den Kopf. Neu ist genau das, was ich nach dem Indien-Fiasko Ende August brauche.
So mache ich mich auf, um am tiefsten Punkt der Erde zwei Wochen lang die Schulbank zu drücken und mich mit Leuten darüber auszutauschen, wie man mit Ideen und Menschenverstand die Welt theoretisch davor bewahren könnte, den Bach runterzugehen. Und während also Chemieriese Bayer seine Pläne in die Tat umsetzt, Monsanto samt dessen Allesvernichter Roundup zu erwerben, während die Welt noch davon ausgeht, dass der Klimawandelverweigerer mit dem orangenen Teint wieder dorthin verschwinden wird, wo er herkam, begeistern wir uns bei 35 Grad im Schatten für Kompost, Food Forests, Nischen, Systeme und Alternativwährungen.
Was für die meisten immer ein bisschen nach Blumenbeet und Öko klingt, ist ein fein durchdachtes Konzept, dass das ganze Leben umfasst. Weil man den Menschen nicht losgelöst von seinem Planeten und seinen Lebensumständen denken kann. Anbau. Ernährung. Architektur. Wasserkreislauf. Energie. Mitmenschen. Ein Leben, das darauf ausgelegt ist, Ressourcen nicht gedankenlos zu verschwenden und Natur nicht als etwas zu sehen, das irgendwo da draußen ist, sondern etwas, das wir sind. Und dass wir deshalb nicht einfach 'die Umwelt', ein lästiges Unkraut oder ungeliebtes Insekt zerstören, sondern uns selbst. Ich bastele noch an einer soliden Argumentation dafür, hierher geflogen zu sein. Mehr als "Laufen wäre zu weit gewesen" bringe ich bisher nicht zustande.
Unser Duschwasser bewässert gefiltert den Garten. Die Komposttoiletten verarbeiten all das, was unsere Körper nicht mehr benötigen, unter Zugabe von Sägespänen zu Dünger. Die Hühner und die Wurmfarm in einer ausgedienten Badewanne kümmern sich um die Küchenabfälle. Was anderswo auf der Müllkippe vermodert, wird hier zu Eiern und Fruchtbarkeit. Jedes Element in diesem System hat mehrere Funktionen; alles baut aufeinander auf. Lediglich die Weckfunktion des Hahnes ist kaputt. Nach seiner inneren Uhr ist die Nacht schon um ein Uhr morgens zu Ende.





 Einige von uns haben ihr Zelt im Garten aufgeschlagen, andere schlafen auf dünnen Matten im Haus. Meine Anschaffung aus der Mongolei errichte ich an einem Platz mit möglichst wenig Gefälle. Trotzdem gleite ich ab da jede Nacht sachte in die untere linke Ecke meiner Behausung. Wir beglückwünschen einander, wenn wir nach Einbruch  der Dunkelheit eine kaum merklich flüsternde Windbrise abbekommen haben oder dass die Hunde der Nachbarschaft langsam ruhiger werden, je weiter der Vollmond zurückliegt.  






Wir, das sind um die 25 Köpfe aus fast ebenso vielen Ländern, mit ebenso vielen Zukunftsplänen und Lebensgeschichten.
Da ist Nacim, der vollbärtige Muslim, der mit Anfang zwanzig von Algerien übers Mittelmeer fliehen wollte und nie erfahren hat, ob die, die es gewagt haben, je angekommen sind. Er sagt Dinge wie: "Tell me about your experience, I want to educate myself." Er spricht vier Sprachen und erzählt mit warmer Stimme davon, dass manche Menschen in Europa ihre Kinder an die Hand nehmen und etwas schneller laufen, wenn sie ihm begegnen. Die zarte Französin Marie, die humanitäre Projekte umsetzen will und als nächstes auf die Philippinen reisen wird. Yaman, der Architekt mit den traurigen Augen, dessen Mutter Kinderbücher schreibt und dessen Cousin eine Woche zuvor von israelischen Soldaten erschossen wurde. Josh, der Selbstversorger mit einer neunköpfigen Familie in Idaho. Helder, der in Portugal beim Film arbeitet und meint, die Zeit sei gekommen für eine "grüne Revolution". Josefine, die in Kopenhagen den Klimawandel studiert. Hamdi, der in Kanada aufgewachsen ist und nun eine eigene Farm in der Heimat seiner Familie, Somaliland, aufbauen will. Anirudh, der seinen Job in Australien geschmissen hat und nach Indien zurückkehren möchte. Zayd, der Farmer und Yogalehrer mit jordanischen Wurzeln, der mit leuchtenden Augen von seiner Zeit in Costa Rica erzählt. Und Zavere, der aus den USA auswandern will, weil er sich dort nicht mehr sicher fühlt, und sich über meine Faszination von Komposttoiletten schlapplacht. Sobald wir alle aufeinandertreffen, fangen wir an zu fragen, zu argumentieren, zu diskutieren. Wir hören erst wieder auf, als die zwei Wochen um sind. Wir spielen hitzige Runden Permaculture Pictionary, Shishas werden herumgereicht, und beinahe jeden Tag läuft jemand ins nächstgelegene Dorf, um eine Simkarte oder etwas zum Naschen zu kaufen.



 "Morgen wird das Ergebnis der Wahl hier in der Region bekanntgegeben. Geht also besser nicht in den Ort. Je nachdem, wie es ausgeht, kann es sein, dass die Leute feiern, indem sie ihre Waffen abfeuern."
"Wenn ihr im ersten Stock des Hauses seid, vermeidet bitte, auf die Nachbargrundstücke zu schauen. Es könnte sonst sein, dass die Frauen, die dort leben, sich nicht mehr aus dem Haus trauen, weil sie unverschleiert sind."
"Passt auf, was ihr zu euch nehmt, wascht euch gründlich die Hände. Wir achten auf Hygiene, aber es gibt hier einfach Mikroben, an die euer Körper sich erst gewöhnen muss."
Ich bin, wie einige andere auch, auf ungewohntem Terrain. Ich kenne weder die Traditionen noch die Regeln. Ich lasse mich leiten von meiner Auffassung von Respekt, Freundlichkeit und dem einen oder anderen wohlmeinenden Hinweis.
Bei Sonnenaufgang dringt die Stimme des Muezzins durch die Wände meines Zeltes.
Der israelische Grenzposten mit den schwerbewaffneten Soldaten ist sechs Kilometer entfernt. Israel sagt niemand außer mir zu dem Land, dessen Geschichte untrennbar mit der deutschen verwoben ist. Palestine. Viele der hier lebenden Menschen wurden vertrieben oder sind geflohen. Die Kinder auf der Straße fragen, warum ich mich denn nicht ordentlich bedecken würde, als ich mit langärmeliger Bluse und langer Hose spazieren gehe. Sie laufen im Tross neben mir her. Zwei ältere teilen sich ein Fahrrad ohne Reifen. Wenn einer bremst, knirscht und staubt es. Der letzte Niederschlag fiel im März. Für die Skorpione fühlt sich die Temperatur wohl genau richtig an. Es ist Mitte September und es wird noch über einen Monat dauern, bis der nächste Regen kommt.
Nach der Wahl wird niemand von Munition getroffen. Die Nachbarn scheinen keinen Anstoß an unserer Anwesenheit zu nehmen. Und zwei Tage später, gegen zwei Uhr morgens, stehe ich halbbekleidet im Garten und mein gesamter Darminhalt läuft meine Oberschenkel hinunter, ohne dass ich auch nur einen Hauch von Kontrolle darüber hätte. Gleiches Spiel in der darauffolgenden Nacht. Und der Nacht danach. Jedes Mal versucht mein Geist, meinen Körper zu bezwingen. Jedes Mal ignoriert mein Körper die Tatsache, dass ich einen Willen habe. Ich schaffe es bloß, den Weg zum Klo stets ein wenig schneller anzutreten und irgendwann sogar im Dunkeln, diesem einen dornigen Zweig auszuweichen, der mir mit stoischer Regelmäßigkeit knapp unter dem rechten Auge ins Gesicht schnellt.
Ich bin nicht allein. Nach und nach wird einer nach dem anderen fahl im Gesicht. Wir teilen Tinkturen, kochen Salbeitee und löffeln Joghurt.




 Als wir am Wochenende einen Ausflug nach Wadi Rum und Petra machen, hat sich mein Innerstes wieder beruhigt. Zum Glück, denn auf Hummus, Rosenwasserpudding, Falafel und Gebäck mit Dattel-Zimt-Füllung will ich nicht länger verzichten.
Und ich will die Dünen und Felsformationen von Wadi Rum sehen, durch Petra flanieren, ein Gefühl für das Land außerhalb der Farm bekommen. Wir haben einen Bus gemietet, mit Fransen an der Decke und einem ununterbrochen rauchenden Fahrer. Alle reden gleichzeitig, Kekse werden durchgereicht. Irgendwann fordert die Monotonie der Straße ihren Tribut; die Sätze werden knapper, Köpfe sinken gegen Fenster oder auf Schultern. Dann die erste Militärkontrolle. "Passport. Where are you from?" "Germany." "Aha. Good football! Welcome to Jordan!"
Unser Klassenausflug wird ein Parforceritt durch die touristischen Ballungszentren des Landes. Wüstentour, Dünenklettern, Übernachten bei Beduinen. Wer keine Lust hat auf Zeltdach und Bett, schläft draußen unter den Sternbildern im Schlafsack, und am Morgen besteigen ein paar von uns noch im Dunkeln und in Decken gehüllt die nächstgelegene Anhöhe, um den Sonnenaufgang zu beobachten.






 Weiter geht es nach Petra, der gigantischen Felsenstadt. Gleichermaßen gigantisch ist der Eintrittspreis von umgerechnet etwas mehr als 50 Euro, der leider keinen Touristen davon entbindet, alle paar Meter ein Angebot auszuschlagen. Postkarten, Nippes made in China, Eselritt, Kamelritt, Pferderitt - was geritten werden kann, wird feilgeboten, egal wie klapprig es ist. Und so entwickelt sich das Weltwunder zu einer Serie von "No, thank you" und einer Ansammlung frustrierter Anbieter und widerständiger Konsumenten. Als sich an der Schatzkammer das Angebot eines etwa 60-jährigen Pferdekutschenbetreibers, ein Foto von mir zu machen, langsam in ein aufdringliches Fragen nach meiner Telefonnummer, nach einem gemeinsamen Drink, nach meiner Übernachtung wandelt, schüttele ich den Kopf und lasse ihn stehen. Als er wenige Minuten später samt seiner Kutsche neben mir auftaucht und ruft, ich könne bei ihm übernachten, schreie ich "No!", ohne "Thank you". Auf sein "I like you, you're hot!", für das ich wohl auch noch in Dankbarkeit erröten soll, fällt mir nichts weiter ein als "Go away!", und ein paar Sekunden lang wünsche ich mir einen Tschador oder das Talent erhabener Schlagfertigkeit, in nicht zu spezifizierender Reihenfolge. Wütend und verschwitzt erreiche ich nach einer halben Stunde Marsch in der sengenden Hitze wieder den Eingangsbereich dieses eines weiteren erfolgreich vermarkteten Must-sees, dessen touristischer Imperativ einhergeht mit einem erschreckend unbalancierten Machtgefüge zwischen denjenigen, die genügend Geld haben, um hierher zu kommen, und denjenigen, deren Überleben ganz unbedingt an die Willigkeit der Anderen geknüpft ist, Geld für etwas auszugeben, das sie nicht brauchen. Eine Konstellation, die, auf die Spitze getrieben, unweigerlich in Frustration ausarten muss, in schwindendem Respekt für das Gegenüber. Fazit: Es ist wie das Abziehbild unseres Systems in einer überhitzten Schneekugel.  Und: Idioten gibt es überall.






Eine Woche später schleiche ich mit vier Mitschülern auffallend unauffällig durch die Lobby eines Luxushotels. Das Ziel: Unsere Körper den Gesetzen der Schwerkraft zu entheben. Das war das Einzige, das ich ganz unbedingt und ohne Kompromiss in diesen zwei Wochen erleben wollte. Zehn Minuten darauf schwebe ich im Toten Meer, ohne 25 Dollar Eintritt entrichtet zu haben. Unser jordanischer Freund hat einfach behauptet, wir hätten ein Zimmer in dem spiegelglänzenden Palast mit den gedimmten Lichtern und dem privatisierten Zutritt zu einem natürlichen Gewässer.


Salzig wie fünf gepökelte Rinderhälften, nur euphorischer, nehmen wir eine Stunde danach unter dem Applaus unserer Klassenkameraden die Kurszertifikate entgegen. Kurz darauf brechen die ersten auf, zum Flughafen, nach Amman, zurück in ihr Leben, ihre Ideen und Pläne. Ich habe so viel gelernt, gehört und gelacht in diesen zwei Wochen, innerhalb und außerhalb des Klassenzimmers, dass mein Kopf summt. Wir haben gemeinsam auf die Welt geschaut, wie wir sie kannten, und sie durch eine neue Perspektive in ein anderes Licht gerückt. Ein Licht, in dem Entrüstung und Hoffnung manchmal ganz plötzlich und wie von Sinnen anfangen zu knutschen.





Wir übrigen schlendern für ein letztes Falafelsandwich ins Dorf. Auf dem Heimweg halten uns zwei Polizisten an, die wissen wollen, wer wir seien, und uns ermahnen, schnurstracks zurück nach Hause zu gehen und auf unsere Sicherheit zu achten. Eine letzte kleine Erinnerung daran, dass der Alltag hier anders gestrickt ist.
Um Mitternacht nehmen Nacim und ich ein Taxi zum Flughafen. Um vier Uhr morgens verabschieden wir uns. Wir umarmen einander nicht, schütteln uns nicht die Hände. Er legt die Hand aufs Herz und sagt: "It was an honour."
It was.

Eure Anja

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