Sonntag, 27. November 2016

Wie aus Indien plötzlich Deutschland wurde

Das Flugzeug hat kaum mit den Rädern die Landebahn berührt, schon stehen mindestens zehn Leute auf. Natürlich sind die Anschnallzeichen noch nicht erloschen, der Flieger hat noch ziemlich Fahrt drauf und nach einer kurzen Durchsage, die nichts bringt, eilen gleich mehrere aufgeregte Stewardessen zu den immer zahlreicher aufstehenden Menschen, um sie wieder zum Hinsetzen zu bewegen. Auch das hilft nicht. Mehr und mehr Leute erheben sich, die Stimmen des Flugpersonals werden lauter. Anja und ich schauen uns an. Sowas haben wir noch nicht erlebt.

Es ist mitten in der Nacht, wir sind von Irkutsk aus seit ca. zwei Tagen per Nachtflug unterwegs, mit einem 17-stündigen Aufenthalt auf dem Pekinger Flughafen. Wir sind übernächtigt und erschöpft, aber gleichzeitig voller vibrierender Erwartung. Über Indien, das vermutlich exotischste Land unserer Reise, haben wir viel gehört und gelesen, auch viele Warnungen, v.a. für allein reisende Frauen. Die immer noch im Gang des Flugzeugs stehenden Inder sind wohl ein kleiner Vorgeschmack darauf, dass hier einiges anders läuft, als wir es kennen ...

Nachdem wir unser Gepäck abgeholt haben, gehen wir zielstrebig zum Prepaid-Taxi-Stand. Denn diversen Reisetipps zufolge soll man sein Taxi besser bereits am Flughafen bezahlen, sonst komme es am Ende zu unvermeidlichen Diskussionen über den Fahrpreis. Den Zettel mit der Adresse unseres Hotels in Neu Delhi drücke ich dem Taxifahrer in die Hand und schon geht es los. Wir haben die Lage scheinbar im Griff. Bisher lief alles reibungsloser als auf Bali.

Zwanzig Minuten später sieht die Sache völlig anders aus. Unser Taxifahrer fragt mich zum wiederholten Mal, wo denn bitte das Hotel liege, er könne es nicht finden. Ich kann es ihm natürlich auch nicht sagen. Meinen Vorschlag, doch die Telefonnummer des Hotels auszuprobieren und nach der Wegbeschreibung zu fragen, schlägt er mehrfach aus, fragt lieber Passanten auf der Straße, die jedoch alle ziemlich ratlos wirken. 

Die Innenstadt von Delhi ist auf den ersten Blick so, wie alle erzählt haben. Am Straßenrand und auf den Bürgersteigen schlafen Männer und Kinder, Müll liegt herum. Wir schauen aus den Fenstern des Taxis und hoffen, dass dies nicht das Viertel ist, in dem unser Hotel liegt. Alle haben uns geraten, so schnell wie möglich wieder aus der Stadt abzureisen und so haben wir nur eine Übernachtung gebucht, wollen am nächsten Tag mit dem Zug weiter, nach Norden.

Jetzt hält der Taxifahrer an und deutet auf ein Schild, auf dem "Tourist Information" steht. Obwohl es mittlerweile fast drei Uhr nachts ist, sind die Fenster noch erleuchtet. Anja soll aussteigen, um nach dem Weg zu fragen. Wären wir nicht so müde, würden wir sicher protestieren. Doch so steigt Anja aus, nach kurzer Zeit auch unser Fahrer. Ich werde wenig später von Anja und zwei Mitarbeitern der "Tourist Information" mit den Worten "Welcome to India! Come in and have a Chai!" abgeholt. Seufzend steige ist aus, vielleicht können uns die Männer ja wirklich den Weg zum Hotel erklären?

Eine Stunde später sitzen wir immer noch in der "Tourist Information". Die drei Mitarbeiter reden abwechselnd oder gleichzeitig auf uns ein: Unser Hotel sei nicht sicher, der Stadtteil ebenfalls nicht, sie könnten uns nicht erlauben, dort hinzufahren. Stattdessen würden sie uns - natürlich völlig kostenfrei - ein neues, besseres Hotel buchen. Nein, nein, keine Sorge, auch das bereits gebuchte könnten sie kostenfrei für uns stornieren, alles kein Problem. Wo wir denn als nächstes hinwollten? Oh je, in den Norden?! Aber da gab es doch gerade so eine schreckliche Flutkatastrophe mit Tausenden von Toten. Auch davon sei dringend abzuraten. Schaut hier, im Internet, diese Bilder von der Katastrophe ...

Wären wir nicht so übermüdet und überfahren, hätten wir sicher an dieser Stelle schon längst deutlicher protestiert. Aber wer sagt denn, dass unser Hotel ein gutes ist? Der Stadtteil okay? Ich bin verunsichert und weiß nicht mehr, was ich glauben soll. Wir hatten Geschichten im Internet gelesen, dass Taxifahrer gerne mal erzählen, das Hotel, in das man wolle, sei abgebrannt, oder den Stadtteil, in dem es liegt, gebe es gar nicht. Nur um dann die Touristen in ein Hotel zu fahren, in dem der Fahrer  eine Provision bekommt. Auf solche irrwitzigen Szenarien waren wir vorbereitet - jedoch nicht auf  das, in dem wir uns jetzt befinden.

Nach langer Diskussion geben wir schließlich klein bei und lassen uns in das angeblich so viel bessere Hotel fahren. Dort gibt es natürlich kein W-Lan. Das Zimmer stinkt nach Benzin, die Laken sind schmutzig. Zwar würden wir nichts lieber tun, als uns ins Bett zu  legen und endlich zu  schlafen. Doch jetzt holt uns die Angst ein: Keiner weiß, wo wir sind. Nicht mal wir selber. Da wir kein W-Lan haben, kann ich auch niemandem Bescheid geben, nichts Neues buchen. Die Männer der angeblichen "Tourist Information"  könnten theoretisch alles mit uns machen. Wie soll es von hier aus weitergehen, wenn man anscheinend nicht in den Norden reisen kann, wir offenbar niemandem vertrauen können, Taxifahrer einen nicht zu der Stelle bringen, zu der man will?

Wir liegen angezogen auf dem Bett, schauen uns an und wissen nicht weiter. Schließlich entscheiden wir, dass wir wieder aufstehen - es ist mittlerweile halb sieben Uhr morgens - und uns ein Taxi an den Flughafen nehmen. Vielleicht bekommen wir dort W-Lan, können dort ein anderes Hotel, eine neue Route buchen?

Gesagt, getan. Der Mann an der Rezeption winkt uns einen Taxifahrer heran - der uns schnurstracks zurück zur "Tourist Information" bringt. Doch diesmal sind wir energischer, steigen trotz wiederholter Aufforderungen der Mitarbeiter nicht aus, sondern bestehen darauf, zum Flughafen gebracht zu werden. Schließlich ist ihnen klar, dass sie mit uns kein Geschäft machen werden. Der Fahrer bringt uns zum Flughafen.

Dort angekommen die nächste Überraschung: Wir können nicht ins Gebäude, da wir kein Flugticket haben. Überredungsveruche bei den schwer bewaffneten Wachen an den Eingängen führen zu nichts. Schließlich dürfen wir doch in ein kleines Nebengebäude, in dem mehrere Fluggestellschaften ihre Verkaufsbuden haben. In die Wartehalle, in die wir uns setzen wollten, um uns ein wenig zu sortieren, dürfen wir allerdings nicht (ohne Ticket), W-Lan gibt es nur für Leute mit indischer Sim-Karte. 

Das ist der Moment, an dem ich nicht mehr kann. Ich fange an zu weinen und will nur noch heim. Anja versucht mich zu trösten, versucht, nochmal mit einigen Leuten zu reden und über diese ein neues Hotel zu organisieren - doch ich sehe nur den Schalter mit den Tickets gen Heimat und kann nicht mehr aufhören zu weinen. Kann mich nicht zusammenreißen. Will nicht hier bleiben.

Denn wem kann man vertrauen? Woher weiß man, dass man auch bei dem Hotel ankommt, das man gebucht hat? Wie sollen wir weiter planen ohne Internet? Und wo würden wir überhaupt hinfahren?  Die Lage scheint mir aussichtslos, da keine unseren sonstigen Reisestratiegien hier zu funktionieren scheint.  Nach über sechs Monaten auf Reisen bringt mich diese Situation komplett aus der Fassung. Sicher hat vieles damit zu tun, dass ich völlig übermüdet bin. Vielleicht auch generell reisemüde, denn dass ich kein Nomade bin, hatte ich ja bereits in einem anderen Artikel erwähnt...  

Anja wiederum fängt an zu weinen, als sie merkt, dass ich tatsächlich nicht mehr in Indien bleiben will. Für sie ist die Enttäuschung zu groß, hier scheinbar schon die ganze Reise "abzubrechen". Meine Beteuerungen, wir könnten dann von Deutschland aus jederzeit weitermachen, reichen in dem Moment  nicht aus.

Nach längerem Hin und Her buchen wir tatsächlich zwei Tickets nach Deutschland. Angeblich gibt es nur noch First Class, doch das spielt nun keine Rolle mehr. Ich kann  Anja überreden, mit mir zu kommen. Denn allein in Indien lasse ich sie auf gar keinen Fall. Kurz darauf sitzen wir in unfassbar bequemen Sesseln im Flieger, werden von A bis Z verhätschelt - und können es nicht wirklich genießen. Vor allem Anja nicht, deren Enttäuschung gerade grenzenlos ist. Ich selbst habe ein riesig schlechtes Gewissen, da ich für den - wenn auch nur vorübergehenden - "Abbruch" unserer Reise verantwortlich bin. 

In Frankfurt werden wir von lieben Freunden in Empfang genommen, die uns spontan Unterkunft gewähren und sich unsere Indien-Story brühwarm  anhören. Wie wenig später auch unsere Eltern. 

In den kommenden drei Wochen tingeln wir quer durch Deutschland, besuchen Freunde und Familie und ich bin einfach nur froh und erleichtert. Für mich war die Entscheidung, an dieser Stelle den Aufenhalt in Indien abzubrechen, die richtige. Vielleicht wären geübtere Reisende damit gelassener umgegangen, sicher hätte es Möglichkeiten gegeben, aber für mich war es in jenem Moment am Flughafen von Delhi einfach nicht mehr möglich weiterzumachen. Vermutlich werde ich Indien zu einem anderen Zeitpunkt unter anderen Voraussetzungen nochmal eine Chance geben. Doch bis dahin warten noch andere Abenteuer auf uns.


Mit liebem Gruß, 

eure Iris

                                                        

                                      Deutschland im Spätsommer -  auch nicht zu verachten ...

                                                       







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