Mittwoch, 11. Mai 2016

Waltzing St. Kilda

“Australien ist einer von weltweit lediglich fünf Kontinenten. Australien ist selten." Rainald Grebe

Rosmarin sei gut für mentale Klarheit, sagt Amber, die jeden Sonntag in den St. Kilda Community Garden kommt, um die Pflanzen zu bewässern. Vielleicht sollte man nach dem Aufstehen lieber an einem Zweig Rosmarin schnuppern, als Kaffee hinunter zu stürzen. In Melbourne, nach Sydney unsere zweite australische Großstadtdestination, hat diese Idee vermutlich nur begrenzte Aussicht auf erfolgreiche Umsetzung, denn ich weiß nicht, wo man hingehen muss, um hier einen schlechten Kaffee zu finden. Vom Aufwachen an stolpern die Gedanken recht zügig zum morgendlichen Flat White (Milchkaffee). Und das mir, einer passionierten Kräutertee-Trinkerin! 


Mit und ohne Kaffee charmant zum Gaumen: Mini-Cupcakes.

Der Pappbecher mit lippenfreundlich gestanztem Plastikdeckel gehört - nicht nur in dieser Stadt - zur Grundaustattung und ich muss mich anstrengen, sie nicht zu zählen und auszurechnen, was das täglich, wöchentlich, jährlich an Müllaufkommen bedeutet: Die figurbewusste Teeniejoggerin, der bis zum Septum tätowierten Hipster, der schaukelschubsende Papa - jeder hat ständig Becher oder Plastikflasche in der Hand. Seit wir unterwegs sind, fällt mir immer mehr auf, wie viele Menschen mit uns unterwegs sind, und wie viel 
wir alle dabei, nebenbei, konsumieren: Kaffee-, Saft- und Smoothiebecher, Plastikflaschen … Alles nichts Neues. Aber man ist 
erstaunt, was man so alles um sich herum wahrnimmt und bewusster verarbeitet, wenn man nicht acht bis neun Stunden am Tag arbeitet.
Darum befinden wir uns seit geraumer Zeit in Begleitung von wiederverwendbaren Edelstahl-Trinkflaschen und eines gläsernen Trinkbechers für den Kaffee auf die Hand. Sogar meine Tupperdose halte ich der Frau im Sushiladen unter die Nase, bevor sie das Essen in Wegwerfplastik verpacken und in eine Plastiktüte stecken kann. Alles keine brandneuen Ideen. Aber ein Anfang.  


Pretty in Pink: Mein neuer Mitnehmbecher. Fehlt nur der passende Nagellack.
Passend dazu sagt Ben, der uns bei der Aboriginal Heritage Tour im Botanischen Garten Teebaumnadeln zwischen den Fingern verreiben und auf Graswurzeln herumkauen lässt: “If we take care of the land, the land will take care of us.” Um zu wissen, was ich daraus und aus all den anderen Dingen, die ich sehe und erlebe, machen werde, braucht es wohl noch ein paar Zweige Rosmarin, aber den Anfang machen Konsumreduzierung (denn was man nicht einkauft, muss man nicht rumtragen), Plastikverzicht, soweit möglich, und ab demnächst Farmarbeit.

Nein, dieses Kraut wirkt nicht bewusstseinserweiternd.
Aber es schmeckt nach rohen Erbsen.

Räucherzeremonie zum Willkommen.
Shrine of Rememberance beim Botanischen Garten.

Jenseits des kunststöfflichen Schwermutstropfens ist die Stadt ein einziger Genuss. Wir nehmen uns ein Zimmer mit eigenem Bad (!) und Schäferhundteenager in einem frisch renovierten Haus mitten in St. Kilda. An jeder Ecke werden Essen und Trinken zelebriert - in Hipster-Cafés, an Food-Trucks, auf dem Prahran-Markt. Na, wenn das hier halt so Sitte ist... lassen wir uns mal nicht lange mit dem Nudelholz drohen und feiern mit. Schon stellt der vollbärtige Barrista perfekte Blatt-, Blumen- und Herzchenkreationen in der Milchkaffeehaube vor uns hin. Der schüchterne, bebrillte Kellner, der heute seinen ersten Tag hat, bringt mit Beeren dekorierten Porridge oder mit Avocado und pochierten Eiern beglücktes Sauerteigbrot. Das erleichtert die Mühen des ersten Aufsetzens von rechtem und linkem Fuß neben dem Bett. Auf dem zentralen Federation Square bieten sie ja einmal die Woche gratis Yoga, Tai Chi und Qi Gong an. Doch das zeitige Aufstehen ist seit dem Zurücklassen des Büroschreibtischs nicht unbedingt einfacher geworden … Immerhin zur wöchentlichen Mittagsmeditation am Dienstag schaffe ich es. Friedfertigkeit, Geduld und Akzeptanz der gegenwärtigen Situation - das perfekte Thema, denn in Städten tendiere ich aufgrund der Vielfalt der Möglichkeiten - und des in Touristenkreisen inflationär gebrauchten Ausdrucks "must-see" gern zum Durchdrehen. Meist führt das dazu, dass ich dann gar nichts mehr mache, sondern stur auf einem Platz sitzenbleibe, Leute gucke und dem inneren Koffer die Schnallen poliere.


Bitte mal die Äpfel mit den Birnen vergleichen.





Später verhindern die perfekt kugelrundgerollte Schokomousse-Eiscreme und eine Erdbeercremeschnitte in einem der Kuchenpaläste auf der Acland Street ein unnötiges Absinken des Cholesterinspiegels vor dem Abendessen in unserer Lieblingspizzeria.






Genießen lässt sich, bis die Rechnung im (kunst-)ledernen Büchlein serviert wird und der Puls sich nicht nur wegen Koffein- und Zuckerkonsums drastisch erhöht - zum Glück sind die glitzernden Stadtansichten bei Nacht, Tramfahrten in der Innenstadt, die historische Straßenbahn Nr. 35, die Spaziergänge im fantastischen Royal Botanic Garden oder der meditative Blick aufs Meer kostenlos, sonst wäre unser Budget - und unser Hosenbund - wohl bald nicht mehr zu retten.


Ja, ich akzeptiere die gegenwärtige Situation.


Im Bild: Ein Hardcore-Slackline-Profi. Und ein Franzose mit Strohhut.




Weniger günstig, aber Kultur: Filmfestivals, Kunstausstellungen, Führungen, Theater und Musik überall machen die Entscheidung nicht leicht. Marilyn Monroe, Ai Weiwei, Virginia Woolf? In einer Übersprungshandlung geben wir zunächst dem Kino (sehr empfehlenswert: der isländische Film “Rams”) den Vorzug und fassen uns beim Bezahlen von 20 Dollar pro Karte fest bei den schwitzenden Händen. Wenige Tage später wissen wir, dass es auch teurer geht: Das Spanische Filmfestival ist in der Stadt und der Kinopreis klettert um weitere fünf auf 25 Dollar, die ich über den Tresen zittere. Immerhin bekommen wir zusätzlich zu den spanischsprachigen Kurzfilmen vorab ein Glaserl Schaumwein, eine eklektische Auswahl von pralinengroßen Küchlein und Livegitarrenmusik. Sag nochmal einer was über Preis-Leistung. 



Theater: "A Room of one's own"






Passenderweise haben wir uns mittlerweile in eine wesentlich kostenbewusstere Unterkunft im weniger angesagten Westen der Stadt verlegt. In West Footscray gibt es viele Neubauten und nur ein einziges Café, dafür aber sieben indische Restaurants auf ca. 150 Metern Straße. Ein völlig anderes Melbourne-Erlebnis, wenn man nicht nach dem Aufstehen sinniert, welches Café heute von unserem Reisebudget profitieren wird, sondern seinen Toast selbst anrichtet und danach zur S-Bahn stiefelt, um in den Central Business District 
zu gelangen. Statt - wie in St. Kilda - über Inneneinrichtung, Hochzeit auf Bali, australischen Fußball und eine-Million-Dollar-Häuser, sprechen wir hier mit unseren Vermietern, einem kolumbianischen Einwandererpaar, über Korruption, permanente Staatsbürgerschaft, Rassismus, Englischlernen und Bewerbungen. Und wir erfahren, dass Kolumbianer Spitzenkaffee anbauen, aber angeblich keinen leckeren Kaffee kochen können. Auch egal. Jenseits der Stadtgrenzen von Melbourne will ich eh nie wieder welchen trinken.



Dem inneren Kind haben wir vor dem Umzug noch eine Fahrt in der über 100 Jahre alten Achterbahn im Lunapark spendiert und uns gefreut, dass Zuckerwatte hier ganz märchenhaft “Fairy Floss” genannt wird. Dann sind wir, lauter kreischend als die zwei Zehnjährigen hinter uns, im vordersten Wagen die Holzbahn entlanggeprescht, bevor wir uns wieder moderat in den erwachsenen Straßentrubel eingereiht haben.







Apropos Kreischen …. oder vielmehr pssssst: Beim Betreten der 
State Library möchte ich eigentlich gleich nochmal studieren, um einen Grund zu haben, immer wieder dieses majestätische, freundlich helle Gebäude mit dem kunstvollen Oberlicht, den alten Holzdrehstühlen und grünen Leselampen aufsuchen zu müssen. Einen Nachmittag lang recherchieren wir an einem der kostenlosen Computer und durchstöbern die Regale im Lesesaal. Und dann noch einen. Und noch einen. Schließlich macht es viel mehr Spaß, in dieser Bibliothek zu sein, als zuhause unromantisch das Tablet zu streicheln.







Außerdem stehen wir in Melbourne vor einer der größten Entscheidungen unserer bisherigen Reise: Wie weiter? Und vor allem: Wohin? War Australien eigentlich immer schon so groß? Und dann: Wie teuer? Plötzlich scheinen die paar Stunden Recherche, die wir bisher mehr oder weniger regelmäßig investiert haben, nicht mehr auszureichen, denn die Optionen sind endlos. Und so diskutieren wir über Pancakes und Birchermüesli, über vietnamesischen Glasnudeln und Kokosnusswasser aus der Kokosnuss (ein wundervolles Getränk UND Nachtisch in seiner eigenen Verpackung!), über der süßen Pizza mit dunkler Schokolade und gebackenen Birnen, bis uns die Möglichkeiten den Kopf verdreht haben und wir uns schon fast nicht mehr anschauen können vor lauter: “Wir könnten ja aber auch …” Das Bevor- und Berücksichtigen aller Bedürfnisse ist selbst zu zweit schon eine Herausforderung, aber unanstrengende Demokratie ist so wahrscheinlich wie schmerzloses Bikinizonenwaxing. Und am Ende freut man sich irgendwie mehr über die gelungene Integration allen Wollens, als wenn jemand im Reisebüro einfach irgendwo geklickt hätte.

Wir haben akzeptiert, dass auch auf Reisen nicht alles reibungslos läuft. Aber frei nach Virginia Woolf sind wir auch einfach glücklich, das Geld und den Freiraum zu haben, um überhaupt hier sein zu können.
Reich mir mal den Rosmarin rüber.




Liebe Grüße aus Australien,

Anja

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen